2609 Mama, wo bist Du?


Mama, wo bist Du?


Wenn ich in der Früh aufstehe, bin ich allein. Mama ist schon weg, früher als sonst. Ausnahmsweise, hat sie gesagt. Aber am nächsten Tag werden wir miteinander frühstücken oder den Tag danach oder irgendwann. Ich gehe alleine zur Schule und am späten Nachmittag alleine nach Hause. Still ist es in der leeren Wohnung. Ich wärme mir das Essen. Wenn was da ist. Manchmal kocht Mama vor. Meistens hat sie keine Zeit. Wenn sie keine Zeit hatte, dann esse ich eben nichts. Ich setze mich vor den Fernseher. Mama hat gesagt, sie komme um sechs Uhr nach Hause. Ich freue mich darauf, freue mich darauf nicht mehr allein zu sein, darauf mit meiner Mama Zeit zu verbringen. Ich möchte ihr erzählen, davon was in der Schule passierte und von dem neuen Mädchen in unserer Klasse und von dem Lob, das ich für meinen Aufsatz bekommen habe. Mama, ich habe ihn für Dich geschrieben, möchte ich sagen. Um sieben Uhr höre ich wie die Haustüre aufgemacht wird. Endlich. Ist doch egal ob sechs oder sieben Uhr, Hauptsache Du bist da, Mama, denke ich mir. Ich laufe zur Türe. Mama trägt den Einkaufskorb und ihre Aktentasche und ihre Handtasche. "Geh weg!", faucht sie mich an, "Das ist schwer!" Gehorsam trete ich zur Seite. Mama läuft in die Küche. Ich stelle mich zu ihr und beginne zu erzählen. Ab und zu brummt sie Aha und Mhm, doch bald schon merke ich, sie hört mir nicht zu. Ihre Gedanken sind weit, weit weg. Enttäuscht drehe ich mich um und gehe in mein Zimmer. Ob sie es überhaupt bemerkt hat? Ich lege mich ins Bett und versuche zu lesen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Ich höre, dass Papa nach Hause kommt und kaum fünf Minuten später streiten sie sich. Ich drücke mir den Polster an die Ohren. Ich will das nicht hören. Irgendwann muss ich dann wohl eingeschlafen sein. Niemand hat nach mir gesehen, niemand sich darum gekümmert ob ich da bin oder nicht.
Ich möchte doch nur, dass Du mich ab und zu in den Arm nimmst, Mama.
Ich möchte doch nur, dass Du mir ab und zu zuhörst, Mama.
Ich möchte doch nur, dass Du ab und zu Zeit hast für mich, Mama.
Ich möchte doch nur, dass Du mich lieb hast, Mama.
Tag um Tag warte ich. Bis ich wegbleibe, einfach so. Ich bin mit meinen Freunden zusammen. Was wir machen? Hat es Dich denn je interessiert was ich mache? Wolltest Du denn je wissen was ich denke? Hast Du mich je danach gefragt was ich fühle? Hättest Du denn je an meinen Hoffnungen teilnehmen wollen?
Mein Freund nimmt mich jetzt in den Arm.
Meine Freunde hören mir zu.
Meine Freunde haben Zeit für mich.
Meine Freunde haben mich lieb.

2 Kommentare:

Pats buntes Sammelsurium hat gesagt…

Sehr schön, Nyx. Und leider kommt das Ganze viel zu oft auch in der Realität vor. LG Pat

Unknown hat gesagt…

Danke Dir! Du hast völlig recht, viel zu oft. Ich denke nun mal, man hat eine große Verantwortung, wenn man Kinder in die Welt setzt und wenn man das mit seinem Lebensentwurf nicht zu vereinbaren vermag, dann soll man es doch bitte bleiben lassen. Lg Nyx