1901 Der schwarze Stuhl


Der schwarze Stuhl


Es geschah zu einer Zeit, als die Blüten schon abgefallen, die Früchte aber noch nicht reif waren, auf den Bäumen und auf den Feldern. Zu einer Zeit zwischen Empfängnis und Geburt. Zu einer Zeit, da der Gedanke in mir reifte, ich mit ihm schwanger ging, aber er noch nicht fertig gefügt war. Es geschah in einer Zwischenzeit.

Das Gras stand hoch, jungfräulich unberührt. Die Sense war ihm unbekannt. Auf meiner Wiese würde es auch so jungfräulich bleiben. Als Geschenk, dass ich es unangetastet ließ, entwuchs meiner Wiese, mitten im Gras, ein schwarzer Stuhl. Ich nahm es an, dieses Geschenk, denn ich war hochschwanger und bedurfte der Ruhe, meinen Gedanken fertig zu fügen. Ich setzte mich auf diesen Stuhl, den mir meine Wiese zum Geschenk gemacht hatte, setzte mich, meinen Gedanken fertig zu fügen.

„Ich sitze auf dem Stuhl auf meiner Wiese.“, war ich.
„Du sitzt auf dem Stuhl mitten auf der Wiese, und tust wieder mal gar nichts.“, warst Du.
„Ich füge meinen Gedanken, auf dass er bereit sei geboren zu werden.“, war ich.
„Sage ich doch, Du tust nichts. Nie tust Du irgendetwas, während ich mich hier schinde und abrackere. Und wofür das alles? Tag und Nacht nichts als Sorgen und Probleme, und Du tust nichts, gar nichts.“, warst Du.
„Ich füge meinen Gedanken um ihn zu gebären, und das bedarf der Ruhe und der Beschaulichkeit.“, war ich.
„Oh, Du bedarfst der Ruhe. Soll ich vielleicht leise arbeiten, damit Du Deine Ruhe und Beschaulichkeit hast?“, warst Du.
„Es würde vollends genügen, wenn Du das Reden lassen würdest. Das würde ich sehr begrüßen.“, war ich.
„Das wird ja immer schöner. Nichts nutze sein auf der Welt, aber auch noch Ansprüche stellen. Nur dasitzen, auf einem Stuhl mitten auf der Wiese. Überhaupt, wer kommt auf so eine schwachsinnige Idee einen Stuhl auf eine Wiese zu stellen?“, warst Du.
„Schwachsinnig bist Du, mit Verlaub, nur Du. Deshalb arbeitest Du und ich füge meinen Gedanken, hier auf dem Stuhl, den nicht ich hierhergestellt habe, sondern den mir meine Wiese geschenkt hat.“, war ich.
„Jetzt wird es mir aber zu bunt. Die Wiese hat ihn Dir geschenkt? Ich werfe ihn um. Siehst Du, nichts als ein ganz normaler Stuhl.“, warst Du.
„Du hast meinen Stuhl entwurzelt und getötet. Du hast mich vom Stuhl geworfen, in die Wiese und den beinahe fertig gefügten Gedanken abgetrieben.“, war ich.
„Ich bin zufrieden. Nun kannst Du mit mir mitarbeiten, mir helfen und mich unterstützen.“, warst Du.

Ich nahm das Leichentuch, es über den schwarzen Stuhl zu breiten, den mir meine Wiese geschenkt und den Du getötet hattest. Ich nahm das Leichentuch, es über meinen fast fertigen Gedanken zu breiten, den Du abgetrieben hattest. Entjungfert und geschändet ließ ich die Wiese hinter mir als ich ging, weg von all dem Sterben, gestorben sein und Dir. Ich ging mir eine neue, jungfräulich unberührte Wiese zu suchen, die mir einen neuen Stuhl schenken würde, meinen neu zu fügenden Gedanken zu gebären.

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