Erzähl mir
Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, tiefe, dunkle
Wolken, so dass ich Dich kaum mehr zu erkennen vermochte. Finsternis,
pechschwarze Finsternis überlagerte sogar noch das Grau, nahmen selbst diesem
noch die Nuancierungen. Doch ich spürte, dass Du mich ansahst, intensiv und
fordernd.
„Erzähl weiter, erzähl weiter, damit ich bleiben kann.“,
fordertest Du, „denn ich will bleiben.“ „Ich soll Dir erzählen? Ja, ich will
Dir erzählen, aber ich bin nicht Seherazade. Meine Geschichten werden zur Neige
gehen, früher oder später.“, sagte ich traurig. „Aber ich bin auch nicht
Schakriyâr.
Und ich will auch keine fernen, fremden Geschichten, ich will Deine.“, erwidertest
Du. „Umso schneller werden wie sich erschöpft haben, meine Geschichten.“,
setzte ich entgegen. „Umso weniger besteht die Gefahr, dass sie zu Ende gehen,
denn jeden Tag kommt eine hinzu, eine neue von diesem, einen, einzigen, diesem
Tag. Niemals hören die Geschichten auf.“, sagtest Du. „Aber Du bist doch hier
bei mir und bist mit in diesen Geschichten aus dem Heute. Was könnte ich Dir da
schon erzählen?“, sagte ich, noch trauriger, denn wenn mir nichts mehr
einfiele, dann müsstest Du weg von mir, weg aus meiner Welt, zurück in Deine,
die mir ferner und unverständlicher erschien als die fernste Galaxie. Ich
wollte sie nicht, diese Traurigkeit, und auch nicht die Angst, denn ich wusste,
umso trauriger, umso ängstlicher ich war, desto eher würde mir nichts mehr
einfallen. Da war ein großes Tor in meinem Kopf, ein zweiflügeliges, das der
Zugang war zu meinen Bildern, die darin lebten. Angst war der eine Flügel und
Traurigkeit der andere, und diese schlossen sich, wenn ich sie zuließ, so dass
mir der Weg zu meinen eigenen Bildern verschlossen war und ich keine
Geschichten mehr erzählen konnte, keine Sätze und kein einziges Wort.
„Jede dieser Geschichten aus diesem Heute kannst Du mir
erzählen.“, risst Du mich aus meinen traurigen und ängstlichen Gedanken, „Denn
selbst wenn wir dieselbe Geschichte erleben, so erleben wir sie doch als je
unsere, als Deine und meine Geschichte, konstituiert und getragen von unseren
Vorerfahrungen, unserem je eigenem Gestern, im Jetzt sich bildend, um ein
Hinüberwachsen in das Morgen zu ermöglichen. So sollst Du mir Deine Geschichte
erzählen, und darin Dich. Erzähl mir Dich!“.
Langsam, ganz langsam, spürte ich wie sich die Angst und die
Traurigkeit zurückzuziehen begannen, wie die Türflügel sich zaghaft zu öffnen
wagten. Da war schon ein kleiner Spalt der den Blick auf die dahinterliegenden
Bilder erlaubte. „Ja, ich werde Dir erzählen, so wie ich Dir zu erzählen
gewohnt bin, wie ich es bisher tat, ob Du da warst oder nicht. Ich erzählte und
erzähle, mit meinen Worten, mit meinen Gedanken, mit mir, erzähle mich.“ Und
mit diesem Erkennen öffneten sich die Türflügel ganz, auf einen Schlag, und die
ganze Pracht meiner Bilderwelten wurde sichtbar.
„Und selbst wenn Du je an die Grenze des Erzählbaren
gelangen solltest, so werden wir uns auch über diese Grenze hinwegsetzen, denn
jenseits des Wortbaren, beginnt das eigentliche, personale Sprechen.“, sagtest
Du. „Über die Grenze des Wortbaren zum eigentlichen personalen Sprechen, zur
Wahrhaftigkeit und Einzigkeit des Du-Sagens. Dorthin will ich uns erzählen.“,
versprach ich. „Und ich werde mit Dir gehen, mit in Dein Erzählen hinein und
darüber hinaus.“, versprachst Du.
Und als die Wolkendecke aufriss und der warme, fahle
Mondschein auf Dein Antlitz fiel, so war mir, als wärst Du ein Stück weit
genesen von der Aufzehrung des Lebens.
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