0108 Die zerstörte Symmetrie


Die zerstörte Symmetrie


Quadratisch ist das Zimmer, quadratisch und weiß. Egal auf welcher Achse es gespiegelt wird, immer formt sich ein vollkommen deckungsgleiches, symmetrisches Bild. An der linken Wand befindet sich ein quadratisches Fenster, in vier gleich große Quadrate durch Sprossen unterteilt, die ebenso in Weiß gehalten sind wie der Rahmen. Zwei gegenüberliegende, voneinander wegweisende Schnallen erlauben es, dass die beiden Flügel geöffnet werden, doch wohlgemerkt, entweder keiner von beiden oder beide gleichzeitig, damit die Symmetrie gewahrt bleibt. Deshalb findet sich an der gegenüberliegenden Wand ein ebensolches Fenster. Vier Fensterflügel muss er öffnen, jedes Mal vier Flügel. Mittig in den anderen beiden Wänden befindet sich jeweils eine quadratische Türe. Mitten im Raum steht ein quadratischer, weißer Tisch und an jeder Seite ein weißer Stuhl. Er tritt ein und betrachtet sein Werk. Ja, es ist vollkommen, meint er, doch sie merkt an, es sei so steril, so tot. Warum er denn nicht ein wenig Farbe hineinbringe, ein wenig Lebendigkeit, vielleicht Blumen oder so. Er nimmt es sich zu Herzen, stellt unter jedes der beiden Fenster ein kleines Bänkchen und darauf einen quadratischen, schwarzen Blumentopf und in dem Blumentopf pflanzt er eine Blume, deren Blüte in rot gehalten ist. Und wie es nun mal die Art der Samen ist, lassen sie die Pflanze aus sich sprossen. Der Samen stirbt und die Blume lebt, wächst. So sei es doch gleich viel besser, merkt sie an, doch er ist deprimiert, denn ja, es ist jetzt Farbe und Leben in dem Raum, aber dieses Leben, das da wächst, ist so hedonistisch, halt- und zügellos. Es tut was es will, wächst gerade so wie es ihm einfällt. Keine Spur mehr von Symmetrie, denn diese beiden Blumen wachsen völlig unterschiedlich, völlig kreuz und quer. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, er muss die Blumen wieder entfernen. Was bleibt sind die schwarzen, quadratischen Blumentöpfe. Um ihrem Wunsch dennoch zu entsprechen, hängt er jeweils links und rechts neben das Fenster Bilder, vier identische, quadratische Bilder. Rot ist der Hintergrund und im immer gleichen Abstand vom Rand, immer kleiner werdende Quadrate, jedes in einer anderen Farbe. Doch das sei kein Leben, immer noch tot, merkt sie an, und sie hat recht, denn um die Symmetrie zu wahren, muss er diese Bilder auch links und rechts neben die Türen hängen. Aber er macht noch mehr. An die Decke, mittig über dem Tisch, hängt nun eine quadratische, grüne Leuchte, denn grün ist lebendig, und auf dem Tisch liegt ein quadratisches Deckchen in gelb, denn gelb ist wie die Sonne, und auf dem Deckchen steht eine quadratische, blaue Vase, blau wie der Himmel, und unter dem Tisch liegt ein brauner Teppich, braun wie der satte Waldboden. So sei es besser, merkt sie an und setzt sich mit ihm an den Tisch, doch da merkt er, alles ist perfekt symmetrisch, doch sie beide, er und sie, sie sind es, die die Symmetrie zerstören. Alles an diesen lebenden, atmenden Körpern ist schief und krumm. Da gibt es keinen einzigen rechten Winkel nur Unebenheit. Der Mensch zerstört die Symmetrie.

Langsam bricht das Leben ein in diesen Raum, überwuchert es, kreuz und quer und unregelmäßig, wie es ihm gerade einfällt, ohne Gerade und rechten Winkeln, ohne Ebenmaß und Gleichheit, nur wachsend, atmend, blühend und wieder ersterbend, um dem neuen Leben Platz zu machen, bis der Raum gänzlich überwuchert und vereinnahmt ist. Nebeneinander im Einklang und Wohlwollen, und die Fülle der Wohltaten der mütterlichen, nährenden Erde strömt dem Leben zu, in einem solchen Übermaß und einer Überschwänglichkeit, dass es die reinste Freude ist dies zu beobachten. Die zerstörte Symmetrie lässt dem Leben wieder Raum. Sie richtet sich darin ein und der Säugling liegt an ihrer Brust, saugt das Leben in sich und kann es kaum erwarten den ihn umgebenden Lebensraum zu erobern. Er zieht sich zurück, aus der Lebendigkeit in ein quadratisches Grab, in das er sich nicht zu legen vermag, denn er zerstört auch hier die Symmetrie. Doch das Sprießende, Kriechende und Verströmende überwuchert auch ihn und macht sich keine Gedanken über die Symmetrie.

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