Das
Glück und die Notwendigkeit
Still saß sie neben mir am Steg und
betrachtete den Mond. Sie war lange nicht mehr hiergewesen, sehr, sehr lange.
„Ich weiß nicht was es ist, aber dieser
Ort hier, der tut etwas mit mir“, sagte sie unvermittelt.
„Was tut er mit Dir?“, fragte ich
interessiert.
„Er macht mich ruhig und gelassen,
ausgeglichen und heiter. Wenn ich die andere Welt hinter mir lasse, dann auch
all meine Begrenztheit. Es ist nicht einfach so, dass die Probleme und Sorgen
drüben blieben, aber es ist, als könnte ich sie hier in einen weiteren Kontext
stellen und dadurch wirken sie nicht mehr so bedrohlich“, sagte sie.
„Das macht der Mond, und Du spürst, dass
hier keine Erwartungen an Dich gestellt werden“, versuchte ich eine Annäherung.
„Keine Erwartungen ... Stimmt, ich komme
an, nach langer, langer Zeit wieder. Sonst würde ich mir wahrscheinlich die
eine oder andere Ausrede zurechtlegen warum ich so lange nicht da war, nur für
den Fall, dass die vorwurfsvolle Frage käme, doch bei Dir ist es nicht
notwendig. Du freust Dich, dass ich da bin, egal ob ich jeden Tag komme oder
alle zehn Jahre. Immer fühle ich mich willkommen“, sagte sie nachdenklich.
„Es ist auch gut, dass Du da bist. Macht
es denn irgendeinen Sinn an Dein Nicht-hier-Gewesen-sein irgendeinen Gedanken
zu verschwenden. Nein, ich bleibe und bin hier bei Dir, so wie Du bei mir“,
ergänzte ich.
„Eine eigentümliche Magie geht von diesem
Ort aus, so als ob sich alle Notwendigkeit verflüchtigen würde. Ich kann hier
sitzen, in den Mond sehen und einfach nichts tun“, meinte sie weiter.
„Es ist der Mond und die Nacht und die
Weite des Glücks. Wo das Glück lebt hat die Notwendigkeit ausgedient, denn das
Glück ist ohne Notwendigkeit, ist purer Luxus. Am Ende der Fragen und des
Wünschens, steht das Glück für sich, in aller Fülle“, sagte ich.
„Aber was ist denn wirklich notwendig?“,
fragte sie unvermittelt.
„Nichts, eigentlich nichts, in diesem
Spiel, das Leben heißt“, antwortete ich.
„Nein, das Leben ist kein Spiel, es ist
bitterer Ernst!“, sagte sie nachdrücklich.
„Es hat einen Anfang und ein Ende. Wir
haben weder mit dem Anfang noch mit dem Ende was zu tun. Reinste Willkür setzt
uns hinein und holt uns wieder heraus. Und da soll es kein Spiel sein?“,
entgegnete ich.
„Wenn es ein Spiel wäre, so eines, bei dem
der Mensch nur verlieren kann“, erwiderte sie.
„Warum? Kann es nicht auch heißen, dass
wir gewonnen haben, wenn wir aus dem Spiel herausgenommen werden, dass wir es
gut gemacht haben?“, fragte sie weiter.
„Wer sollte das beurteilen, ob wir es gut
gemacht haben? Wer legt die Maßstäbe zurecht? Vielleicht passiert es dann, wenn
wir gelebt haben, wenn wir es geschafft haben die Notwendigkeit hinter uns zu
lassen und uns dem Glück öffnen konnten. Vielleicht geht es um nichts weiter
als um diesen einen Moment der völligen Hingabe und das Loslassens, inmitten
eines permanenten Brauchens und Haben-wollens. Vielleicht geht es einfach um
ein Stück der Ewigkeit“, versuchte ich mich anzunähern.
„Ich habe nicht mehr lange, nur noch eine
kurze Weile zu leben, sagen meine Ärzte“, eröffnete sie mir.
„Dann bleib doch!“, forderte ich sie auf.
„Ich kann nicht. Es gibt noch viel zu viel
zu tun“, sagte sie ernsthaft.
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