1109 Das Glück und die Notwendigkeit


Das Glück und die Notwendigkeit


Still saß sie neben mir am Steg und betrachtete den Mond. Sie war lange nicht mehr hiergewesen, sehr, sehr lange.

„Ich weiß nicht was es ist, aber dieser Ort hier, der tut etwas mit mir“, sagte sie unvermittelt.
„Was tut er mit Dir?“, fragte ich interessiert.
„Er macht mich ruhig und gelassen, ausgeglichen und heiter. Wenn ich die andere Welt hinter mir lasse, dann auch all meine Begrenztheit. Es ist nicht einfach so, dass die Probleme und Sorgen drüben blieben, aber es ist, als könnte ich sie hier in einen weiteren Kontext stellen und dadurch wirken sie nicht mehr so bedrohlich“, sagte sie.
„Das macht der Mond, und Du spürst, dass hier keine Erwartungen an Dich gestellt werden“, versuchte ich eine Annäherung.
„Keine Erwartungen ... Stimmt, ich komme an, nach langer, langer Zeit wieder. Sonst würde ich mir wahrscheinlich die eine oder andere Ausrede zurechtlegen warum ich so lange nicht da war, nur für den Fall, dass die vorwurfsvolle Frage käme, doch bei Dir ist es nicht notwendig. Du freust Dich, dass ich da bin, egal ob ich jeden Tag komme oder alle zehn Jahre. Immer fühle ich mich willkommen“, sagte sie nachdenklich.
„Es ist auch gut, dass Du da bist. Macht es denn irgendeinen Sinn an Dein Nicht-hier-Gewesen-sein irgendeinen Gedanken zu verschwenden. Nein, ich bleibe und bin hier bei Dir, so wie Du bei mir“, ergänzte ich.
„Eine eigentümliche Magie geht von diesem Ort aus, so als ob sich alle Notwendigkeit verflüchtigen würde. Ich kann hier sitzen, in den Mond sehen und einfach nichts tun“, meinte sie weiter.
„Es ist der Mond und die Nacht und die Weite des Glücks. Wo das Glück lebt hat die Notwendigkeit ausgedient, denn das Glück ist ohne Notwendigkeit, ist purer Luxus. Am Ende der Fragen und des Wünschens, steht das Glück für sich, in aller Fülle“, sagte ich.
„Aber was ist denn wirklich notwendig?“, fragte sie unvermittelt.
„Nichts, eigentlich nichts, in diesem Spiel, das Leben heißt“, antwortete ich.
„Nein, das Leben ist kein Spiel, es ist bitterer Ernst!“, sagte sie nachdrücklich.
„Es hat einen Anfang und ein Ende. Wir haben weder mit dem Anfang noch mit dem Ende was zu tun. Reinste Willkür setzt uns hinein und holt uns wieder heraus. Und da soll es kein Spiel sein?“, entgegnete ich.
„Wenn es ein Spiel wäre, so eines, bei dem der Mensch nur verlieren kann“, erwiderte sie.
„Warum? Kann es nicht auch heißen, dass wir gewonnen haben, wenn wir aus dem Spiel herausgenommen werden, dass wir es gut gemacht haben?“, fragte sie weiter.
„Wer sollte das beurteilen, ob wir es gut gemacht haben? Wer legt die Maßstäbe zurecht? Vielleicht passiert es dann, wenn wir gelebt haben, wenn wir es geschafft haben die Notwendigkeit hinter uns zu lassen und uns dem Glück öffnen konnten. Vielleicht geht es um nichts weiter als um diesen einen Moment der völligen Hingabe und das Loslassens, inmitten eines permanenten Brauchens und Haben-wollens. Vielleicht geht es einfach um ein Stück der Ewigkeit“, versuchte ich mich anzunähern.
„Ich habe nicht mehr lange, nur noch eine kurze Weile zu leben, sagen meine Ärzte“, eröffnete sie mir.
„Dann bleib doch!“, forderte ich sie auf.
„Ich kann nicht. Es gibt noch viel zu viel zu tun“, sagte sie ernsthaft.

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