0910 Die Prozession


Die Prozession


Seltsam war es anzusehen, diese Prozession, die an mir vorüberzog in dieser Nacht. Ganz vorneweg ging eine dunkle Gestalt, der viele andere folgten. Nicht die geringste Gemeinsamkeit war an den Nachfolgenden zu erkennen. Junge und alte, kleine und große, elegant und ärmlich gekleidete Menschen folgten dieser einen Gestalt, als wären sie wie zufällig zusammengewürfelt worden. Kein einziger Laut war zu vernehmen, nicht einmal ein Fußtritt war zu hören. Niemand nahm Notiz von mir. Alle schienen sich einzig an der dunklen Gestalt zu orientieren, die die Prozession anführte. Langsam aber zielgerichtet schritten sie voran, vorbei am See, über den Steg, hinein in die Burg, durch den Rosengarten und hinaus auf die Allee. Ich folgte ihnen, und als die Allee erreichte, fand ich die Prozession stillstehend. Die schwarze Gestalt hatte auf einer der Bänke Platz genommen. Vorsichtig trat ich näher. Ich fand eine Frau, hochgewachsen und schlank, muskulös und kantig. Sie war ganz in schwarzes Leder gekleidet und ihr langes schwarzes Haar war in einem Knoten gebändigt. Ihre dunklen, großen Augen bildeten einen wunderbaren Kontrast zu ihren tiefroten Lippen.
Setz Dich endlich her und frag mich was Du wissen möchtest, sprach sie mich unvermittelt an.
Wer bist Du?, fragte ich, denn schließlich sollte ich ja Fragen stellen.
Erkennst Du mich denn wirklich nicht?, fragte sie kopfschüttelnd, Da denkst Du so oft an mich und über mich nach, und dann willst Du wirklich behaupten, dass Du mich nicht erkennst?
Bist Du der Tod?, fragte ich vorsichtig.
Bist ja doch ein schlaues Mädchen! Aber ich bevorzuge die Anrede Tod, ohne der, sagte sie leichthin, Aber jetzt frag endlich!
Tut es eigentlich weh zu sterben?, begann ich.
Eine langweilige Frage. Dass euch Menschen auch nichts Besseres einfällt. Ich weiß es nicht genau, denn schließlich bin ich am Sterben ja nur indirekt beteiligt. Natürlich sage ich wann es Zeit ist, aber das Sterben selbst, das macht schon noch der Mensch. Ich kann nur indirekt schließen. Manche gleiten leichthin und es ist wirklich nur, als hätten sie einen kleinen Stich bekommen. Andere hadern furchtbar mit ihrem Schicksal, wehren sich mit Händen und Füßen und flennen wie die kleinen Mädchen. Ich denke, diese haben Schmerzen, aber wahrscheinlich nicht durch das Sterben an sich, sondern durch ihre Uneinsichtigkeit. Wen ich hole, der muss mit mir gehen, ob es ihm nun gefällt oder nicht, entgegnete sie.
Aber nach welchem Schema gehst Du vor? Welchen Plan verfolgst Du? Ist es nicht ungerecht, wenn kleine Kinder z.B. sterben müssen?, fragte ich.
Plan? Schema? Es gibt keinen Plan, kein Schema. Ich gehe durch die Welt und nehme mit wer mir gefällt. Es gibt keine Gerechtigkeit, weder beim Leben noch beim Tod. Völlig willkürlich werden die Lebewesen in die Welt gesetz und völlig willkürlich müssen sie sie wieder verlassen. So einfach ist das. Ich weiß nicht warum ihr Menschen die einfachsten Dinge immer verkomplizieren müsst und einen tieferen Grund sucht, entgegnete sie, und sie wirkte ein klein wenig gelangweilt.
Natürlich muss es einen Grund geben, sondern hätte das alles keinen Sinn!, sagte ich bestimmt.
Und warum muss es einen Sinn haben?, fragte nun sie.
Weil Gott nicht würfelt!, übernahm ich den altbekannten Satz.
Woher willst Du das wissen?, vermerkte sie amüsiert, Ich werde Dir etwas zeigen!

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