9. Die Kette
Stück für Stück brechen die Ziegel heraus, geben den Blick frei auf den Schein der neun Kerzen. Sie verfolgen dieses Schauspiel, staunend und mißtrauisch aus der jeweiligen Ecke ihrer Kerkerzelle, doch umso mehr die Mauer wegbröckelt, umso zuversichtlicher werden sie, lassen sich los, strecken sich, stehen auf. Dort geht es weiter. Sie müssen nicht bleiben, klein und gefangen in ihrer Ecke und in sich. Ja, sie können sich zeigen und auch trotzen. War es nicht allein ihr Wille, der ihre Befreiung vollbracht hat? Es geht weiter, immer geht es irgendwo, irgendwohin weiter. Immer kommt ein neuer Morgen und eine neue Möglichkeit. Immer kommt ein neuer Abend und eine neue Verheißung. Immer kommt ein erneutes Aufeinander-zu und eine neue Begegnung. In Anbetracht dessen setzen sie den ersten Schritt, hin zum Schein der neun Kerzen, und fühlen sich zurückgehalten. Was ist es, was sie am Fortkommen hindert? Was ist es, was ihren Schritt hemmt? Argwöhnisch sehen sie an sich herab und entdecken einen breiten, eisernen Ring, der um ihr Fußgelenk geschnallt ist, und an diesem Ring wiederum ist eine starke Eisenkette befestigt, die an der Mauer festgemacht ist. Jetzt wäre es wohl Zeit aufzugeben. Den Berg haben sie hinter sich gelassen und auch den Graben, haben es geschafft mit ihrem Wollen die Mauer ihrer Kerkerzelle zum Einstürzen zu bringen, um sich nur wieder gefesselt zu finden. Gefesselt durch ihre eigenen Gedanken, Gedanken, die sich noch nicht mit ihnen erhoben haben, als sie beschlossen sich nicht mehr klein machen zu lassen, als sie es annahmen stark sein zu können, als sie an der Möglichkeit zu wachsen wuchsen. Sie mußten es sich selbst und an sich selbst glauben. „Ich kann dorthin gelangen, dort zum Schein der neun Kerzen.“, denken sie sich, und die Kette fällt ab. Sie gehen, diese wenigen Schritte, dorthin, wo die Mauer gefallen ist.
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