Und plötzlich ist alles anders ...
Schweigend räumte er seinen Kram zur Seite um für
den Neuen in der Klasse Platz zu machen. Alexander war immer alleine gesessen
und er wollte es auch so. Sein Tisch, den er deshalb ganz für sich allein
hatte, war immer überfüllt. Nicht etwa mit Schulbüchern oder Heften, sondern
mit Skizzen, denn seine Leidenschaft galt kleinen Gipsfiguren. Am Vormittag, in
der Schule verfertigte er diese Skizzen, nach denen er am Nachmittag seine
Figuren anfertigte. Zu Anfang hatte er sie noch heimlich verfertigt, teils aus
Angst vor den Mitschülern, sie könnten sich darüber lustig machen, doch die
interessierten sich nicht im Mindesten für das was er so trieb, dort hinten in
der letzten Reihe, so wie sie sich auch für ihn nicht interessierten. Er war
einfach da, suchte keinen Kontakt und seiner wurde auch nicht begehrt. Teils
fürchtete er die Lehrer, doch diese merkten recht bald, dass er zwischen seinen
Skizzenblättern, so wirr es auch aussehen mochte, immer eine saubere Mitschrift
hervorzauberte. Er war auch in der Lage dem Unterricht zu folgen. So waren die
Lehrer zufrieden und ließen ihn ebenso in Ruhe wie seine Mitschüler. Doch mit
dem Auftauchen des Neuen wurde alles anders. Philipp musterte Alexander von
oben bis unten, und aus seinem Blick sprach unverhohlene Missbilligung, als er
die zerschlissenen Jeans sah, das ausgebleichte Shirt und die Turnschuhe, auf
denen wohl nicht der richtige Markenname stand. Eigentlich stand gar keiner
drauf. Angewidert zog Philipp die Nasenflügel kraus: "Wo hast Du denn die
Klamotten her? Aus der Altkleidersammlung?", und er sprach demonstrativ
laut genug, dass es die ganze Klasse hören konnte, ohngeachtet der Tatsache,
dass Fr. Prof. Pfhiel gerade versuchte dieser Horde von 25 Vierzehnjährigen
zumindest die niederen Geheimnisse der Algebra nahe zu bringen, die wohl für
manche immer solche bleiben würden. Dementsprechend erfreut zeigten sich seine
Mitschüler über die höchst willkommene Ablenkung. Natürlich versuchte Fr. Prof.
Pfhiel sofort einzuschreiten, doch alle hatten sich umgedreht und erwarteten
mit großer Neugierde Alexanders Antwort. Dieser zeigte sich ebenso überrascht
wie alle anderen, wenn auch aus anderen Gründen. Er hatte sich über seine
Klamotten noch nie Gedanken gemacht und zog an was da war. "Ja, teilweise
schon, wenn sie im Caritas-Shop verkauft werden. Die Sachen sind in Ordnung und
teilweise kaum getragen", antwortete Alexander wahrheitsgemäß. "Frau
Professor wollen Sie es mir wirklich zumuten neben einem Müllmann zu sitzen?
Das beleidigt meine Augen und meine Nase!", verkündete Philipp daraufhin
laut, was mit schallendem Gelächter quittiert wurde. Damit hatte Philipp
innerhalb weniger Minuten zwei Dinge erreicht, die in unmittelbarem Zusammenhang
standen. Einerseits hatte er aus dem ruhigen, selbstgenügsamen Mitläufer
Alexander einen Außenseiter gemacht, und andererseits hatte er seinen Anspruch
auf die Stelle des Alpha-Männchens in der Klasse klar und unmissverständlich
kund getan. Alexander war immer noch so verdattert, dass er nicht wusste was er
sagen sollte. Stattdessen stapelte er wortlos seine Skizzen zusammen und
dachte, wie das sein könnte, dass Philipp ihn noch nicht einmal kannte und
dennoch verurteilte, einfach nach dem was er anhatte. Aber noch schlimmer war,
die anderen waren sofort bereit sich auf seine Seite zu stellen, sofort bereit
wie die kleinen Hunde seinen Speichel zu lecken. Von oben bis unten in
Designerklamotten und das neueste Handy immer griffbereit. Vom ersten Tag an
himmelten ihn alle an. Jeder wollte mit ihm befreundet sein, und die Mädchen
fingen mit den Augenlidern zu klimpern an und spitzten die Lippen, wenn er
vorbeiging. Umso mehr er sie ignorierte, desto mehr strengten sie sich an seine
Aufmerksamkeit zu erregen. Ein einziger Satz genügte, und ein Riss ging durch
eine Gemeinschaft, die bis dahin als gut bezeichnet werden konnte. Ein einziger
Satz genügte, Menschen von einem anderen abrücken zu lassen, aufgrund einer
unbedeutenden Äußerlichkeit, die mit seiner Person nichts zu tun hatte.
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