0606 Ich geh mal eine Runde laufen ...


Ich geh mal eine Runde laufen ...


Es war ein wunderschöner Spätsommernachmittag, als ich beschloss Laufen zu gehen. Mit meinem Lieblingslied im Ohr und voller Endorphine bewegte sich mein Körper fast wie von selbst, als ein Anruf hereinkam. Normalerweise hebe ich nie ab, wenn ich laufe, niemals und unter gar keinen Umständen, aber die Endorphine, die sich immer mehr ausbreiteten, ließen mich weich werden und umgänglicher als sonst.
„Ich hätte Konzertkarten“, hörte ich nur, und ich wusste worum es ging. Mein Lieblingssänger war in der Stadt, und ich hatte keine Karten mehr bekommen.
„Warum gehst Du nicht selber?“, frage ich irritiert.
„Weil ich krank bin und meine Freundin nicht will, und jetzt kann ich die Karten nur mehr wegschmeißen“, antwortete er betrübt. Und ich im Laufgewand. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, ich musste mich schnell entscheiden. Nach Hause laufen, umziehen, die Karten holen und auf das Konzert gehen, das war nicht mehr drinnen, aber vorbeilaufen, die Karte holen und weiter zum Festivalgelände laufen, ja das ginge. Aber könnte ich, so gewandet, verschwitzt, dort auftauchen? Andererseits, es war eine einmalige Gelegenheit.
„Ich bin in zehn Minuten bei Dir“, sagte ich kurzentschlossen, und dann hielt ich sie in der Hand, endlich, die Karte. Die Vorfreude beflügelte mich, so dass ich kurz darauf unter all den anderen Leuten stand und dem Sänger zujubelte, der mir in seinen Liedern so viele Bilder und Gedanken geschenkt hatte. Ich verlor mich in den Melodien, den Rhythmen und dem Jubel der Menge. Eine ganz eigene Stimmung, die ich bis jetzt nur auf Life-Konzerten erlebt hatte, durchfloss mich. Ich vergaß alles um mich und vor allem meine unpassende Aufmachung. Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte, beschloss ich für mich
„Hej Leute. Ich habe eine Überraschung für Euch. Es wird eine Nummer ausgerufen. Wer diese auf seiner Eintrittskarte hat, darf zu mir hinter die Bühne kommen“, verkündete der Sänger, dessen Lieder mir so viele schöne, tiefe Momente geschenkt hatte. Der Jubel war groß.
„Die Nummer lautet: 117.711. Also, wer die Nummer hat kommt nach dem Konzert zu mir hinter die Bühne, aber wirklich nur der oder die“, fügte er hinzu. Eine tolle Sache, dachte ich. Wie wäre es doch toll diese Chance zu bekommen, denn ich hatte viel über ihn gelesen, über sein soziales und politisches Engagement, das auch immer Eingang in die Texte seiner Lieder fand. Ich hatte so viele Fragen an ihn. Gespannt sah ich die Menschen um mich an, die eifrig ihre Eintrittskarten untersuchten, bis mir einfiel, dass ich es ja auch sein könnte, dass ich auch so eine Karte mit einer Nummer besaß, aber ich hatte wenig Hoffnung, doch ich sah nach. Drei Mal las ich die Nummer, rieb mir die Augen, ja es war tatsächlich die richtige Nummer, und so stand ich wenige Minuten später hinter der Bühne und wartete. Es waren wirklich nur wenige Minuten, aber dennoch genug Zeit nachzudenken, denn ich stand da, in meinen Laufsachen, verschwitzt und fröstelnd, denn mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Und so wollte ich ihm gegenübertreten? Doch es war zu spät, da stand er schon vor mir.
„Hallo!“, sagte er lächelnd.
„Ich freue mich so unheimlich, aber eigentlich ist es mir auch peinlich“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Warum peinlich?“, fragte er irritiert.
„Weil mir das Schicksal die Karte geschenkt hat und diese Begegnung, und dann komme ich in dem Aufzug daher“, antwortete ich.
„Ich finde es gut. Lass uns noch eine Runde laufen. Ich habe jetzt echt Lust“, bot er an.
„Mit dem größten Vergnügen“, gab ich zurück.

„Wo kommst Du her?“, fragtest Du, als ich weit nach Mitternacht nach Hause kam.
„Von meiner Laufrunde“, antwortete ich, und es war ja auch fast die ganze Wahrheit.

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