Die Brücke (Teil 2)
Ich blickte mich um und gewahrte eine große, dunkle Gestalt, die sich der Brücke rasch näherte. Sie war in einem langen, weiten Umhang gehüllt, so dass es unmöglich war zu entscheiden ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Doch ich wusste es, plötzlich war es wieder da, all das Erinnern und das Grauen in dem Erinnern.
Das Mädchen, das da verängstigt meine Hand hielt, das war ich selbst, in einem, irgendeinem Damals, und die dunkle Gestalt, die sich so rasch und ungestüm der Brücke näherte, das war der Mann, an den ich verkauft worden war, in jenem Damals, in dem ich mich fügte, in dem ich mich nicht zu wehren wusste. Es war zum Besten des Dorfes, hieß es. Ein kleines Mädchen zu opfern, das war doch ein viel geringerer Verlust als niedergebrannte Felder und ausgeraubte Häuser. So ward es beschlossen. Ein minimales Opfer zum Wohl der Gemeinschaft. Was zählt denn schon ein kleines Menschenleben, wenn dadurch Hunderte gerettet werden können? So waren alle einverstanden. Es ward entschieden, über meinen Kopf hinweg, ohne meine Zustimmung. „Es ist ein großes Opfer, das Du bringst, und wir werden Deiner immer gedenken.“, versuchten sie mich zu ermutigen. „Du verlässt uns mit dem erhebenden Gefühl Dich für viele Menschen und deren Glück und Fortkommen eingesetzt zu haben.“, sprachen sie fort. Doch ich fühlte mich nicht erhaben, bloß klein und verloren. So setzten sie mich an des Ende der Brücke. „Was, wenn der Unhold dennoch nicht abließe unser Dorf zu tyrannisieren? Dann wäre ihr Opfer völlig sinnlos gewesen.“, meldeten sich vereinzelte kleine Stimmen, doch sie wurden nicht gehört. Vielleicht wollten sie auch nicht gehört werden. Und doch konnten sie sagen, sie hätten es versucht, zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens. Nicht laut, nicht stark und schon gar nicht nachhaltig, aber doch immerhin, etwas. „Das war mehr als die Allermeisten getan hatten.“, würden sie später ins Feld führen können. Und ich saß in jenem Damals am Ende der Brücke, wo ich hingesetzt wurde, und das Tor hatten sie fest verriegelt. Warum war ich nicht weggelaufen, fragte ich das Mädchen an meiner Hand, einfach weggelaufen? Es war nicht möglich, doch jetzt, jetzt war es möglich. Schon wandten wir uns von der Brücke ab um unseren Weg fortzusetzen, als ich erkannte, dass es mir wohl jetzt möglich war davonzulaufen, mehr als ihn gewähren zu lassen.
Ich ließ das Mädchen stehen, das ich einst war, dieses kleine, verängstigte, paralysierte Mädchen, und ging zurück zu dem Unhold. Mit der Rechten griff ich mir die schmale Sichel des Mondes und stach sie ihm mitten ins Herz, und mit einem Mal zerplatzte der Unhold, zerstob in die Nacht und wurde aufgesogen. Ich hatte sie besiegt, meine Angst, meine Paralyse, und als ich mich umwandte, da sah ich wie dieses kleine, verschüchterte Mädchen, das Ich aus diesem Damals, sich aufrichtete, wuchs, um sich mit mir zu vereinen.
Da war ein Teil von mir, den ich bereits verloren glaubte, den ich nun nicht nur wiedergefunden, sondern auch noch gerettet hatte. Ich war herausgetreten aus der Opferrolle, in die der Handelnden, die ihr Leben lenkt, und nicht länger lenken läßt.
Ich war ganz und heil geworden, in dieser Nacht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen