0603 Alles was messbar ist ...
Alles was messbar ist ...
Ein Kind kommt auf die Welt. Unberührt und
unvorbelastet. Nein, das stimmt nicht. Bereits Monate vorher wird kontrolliert,
am Ultraschall, bei den Untersuchungen. Hält sich die Mutter auch brav? Macht
sie keine Dummheiten? Nimmt sie auch keine Kopfwehtabletten? Schont sie sich
genug? Liegt sie nicht nur herum? Hat sie genug zugenommen? Hat sie nicht zu
viel zugenommen? Abmessen – Bauchumfang und Blutdruck und Gewicht. Abmessen –
Herztöne des Kindes, Größe. Errechnen – voraussichtlicher Geburtstermin. Schon
während der neun Monate, in denen es Schutz bekommen sollte im Schoß der
Mutter, wird es bereits strengstens überwacht. Alles zum Besten des Kindes,
alles zum Besten der Mutter, und dann werden die Ergebnisse in Tabellen
eingetragen und diese mit anderen Tabellen verglichen, zu sehen, ob das Kind in
der Norm liegt. Ist es auch wie alle anderen? Entwickelt es sich wie alle
anderen? Man wünscht sich nur, dass es normal ist, das Kind, dass es in die
Norm passt, und alles noch bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt hat.
Und wenn es dann so weit ist, dann wird es sofort entfernt von der Mutter. Es
muss gewogen und gemessen werden. Da kann es schreien was es will. Das muss
sofort sein. Eine halbe Stunde später, eine erste Mahlzeit später, wäre es doch
verfälscht und gäbe keine aussagekräftigen Daten mehr. Weiter geht es in der
Krabbelgruppe. „Mein Kind konnte mit fünf Monaten schon sitzen“, heißt es da,
Und „Mein Kind konnte mit acht Monaten schon gehen. Ich weiß, es sollte nicht,
aber ich konnte es nicht bändigen“, heißt es auch, und wenn dann ein Kind
nichts vorzuweisen hat, was es schneller konnte, dann kann man sich noch immer
denken, es liegt ja in der Norm. Ängstlich sieht man auf die Entwicklungstabelle,
ja, es ist noch in der Norm. Alles was messbar ist wird festgehalten, denn das
ist wichtig. Sonst nichts. Und wenn es in die Schule kommt, dann wird
vorgegeben, was ein Kind in welchem Alter zu können hat, was es wie schnell zu
erlernen hat. Spätestens da weiß man, dass nichts wert ist, was nicht abgeprüft
oder zum Kanon der schulischen Fächer gehört. Das Kind kann gut vermitteln oder
es hat die Kraft andere zu schützen, vor anderen oder vor sich selbst oder es
kann gut zuhören und trösten. Alles unwichtig, denn das steht nicht im
Lehrplan, und nur das wird gemessen, und nur was gemessen wird, ist gut. Anders
herum, was nicht messbar ist, hat keinen Wert. Wofür man kein Diplom hat, das
hat keinen Zweck, denn man kann nicht beweisen, dass man es kann. Wenn das Kind
künstlerisch oder sozial begabt ist, dann ist es schön für seine Freizeit, aber
es hebt das Bruttosozialprodukt nicht. Sich auf andere einlassen oder ihnen
Freude zu bereiten? Nun, das ist nett, aber dann muss man einen sozialen Beruf
ergreifen oder die Welt verbessern. Aber wie misst man die Verbesserung der
Welt? Nicht an monetären Größen. So spielt es keine Rolle. Und dann schickt man
die jungen Leute hinaus in die Welt. „Werdet glücklich, verdammt noch mal“,
wird ihnen eingetrichtert. „Aber wie?“, fragen sie zurück. „Ganz einfach,
haltet euch messbar und berechenbar. Dann könnt ihr sehen ob ihr in der Norm
liegt und dann kommt das mit dem Glück von ganz allein“, wird ihnen
geantwortet. „Aber was hat das alles für einen Sinn? Es ist doch alles fertig.
Alles wurde schon gemessen und fertig verpackt. Wir müssen es nur noch nehmen.
Was haben wir dazu noch beizutragen? Was gibt es für uns noch zu tun?“, fragen
sie zurück. „Solch philosophische Fragen!“, tönt es empört zurück, „Arbeitet,
kriegt Kinder und schaut, dass ihr zu was kommt. Dann habt ihr für so einen
Unsinn gar keine Zeit mehr, aber nicht vergessen, wenn schon, dann schaut, dass
ihr in der Norm bleibt. Tut was alle tun, und das wird passen.“ Vielleicht
nehmen es die meisten schulterzuckend hin, aber manche schaffen es nicht. Sie
wollen sich nicht abspeisen lassen. Ihnen ist es zu wenig, in der Norm zu sein.
Sie wollen einen Sinn im Leben finden. „Geh Schuhe kaufen!“, ist dann die
Antwort oder „Trink noch ein Bier!“ Aber kann es das sein? War das dann schon
wirklich alles? Ja, weil dann die Statistik wieder passt, die von den
Schuhverkäufen und die vom Bierkonsum. Dann alles was messbar ist, ist gut.
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