Der Lauf der Zeit ... (1)
Das Sonnenlicht lässt die Luft flirren. Ich
erwache unter dem Olivenbaum, unter dem wir uns betteten. Wie lange wir wohl
geschlafen haben? Ich weiß es nicht. Es ist Sommer. Mehr weiß ich nicht. Mehr
brauche ich nicht zu wissen. Wir leben mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Der
Frühling geht und der Sommer kommt. Der Sommer vergeht und der Herbst kommt.
Der Herbst vergeht und der Winter kommt. Wir leben mit dem Erblühen und
Ersterben der Natur. Ich drehe mich zu Dir. Du schläfst noch. Ich möchte Deine
Wange streicheln, doch ich belasse es bei dem Gedanken, denn Du bist erschöpft.
Du hast eine schwere Aufgabe vor Dir. Du sollst nicht vor der Zeit erwachen. Es
ist noch nicht Zeit. Es hat alles seine Zeit. Jetzt ist die Zeit für Dich zu
schlafen, ein wenig noch Dich zu erholen. Noch ist es nicht Zeit.
Der Schnee fiel in dicken Flocken vom
Himmel. Wochenlang hatte es geschneit. Der Winter dauerte schon ungewöhnlich
lange. Es wurde immer schwieriger im Wald etwas zu finden. Eines Tages war ich
auf dem Weg, Brennholz zu sammeln und als ich mit diesem zu meiner Hüte
zurückkehrte, lagst Du im Schnee, direkt vor der Türe meiner Hütte. Ich ließ
das Holz fallen und schleppte Dich in die Hütte. Halb erfroren und geschwächt,
verwundet an Leib und Seele, legte ich Dich auf mein Bett. Ich wärmte Dich und
untersuchte Deine Wunden. Dein schlaffer, ausgehungerter Körper war mit
Blessuren übersät und das Fieber setzte Dir stark zu, doch da war auch ein
Schmerz, der viel tiefer ging als der körperliche, viel tiefer alle Deine
offenen Wunden zusammen. Es war der Schmerz in Dir, der sich in wilden
Fieberphantasien seinen Weg bahnte. Du warst nicht bei Bewußtsein, und doch
sprachst Du, die ganze Zeit, Worte, die nicht definierbar waren. Er wollte
heraus aus Dir, dieser Schmerz, der sich doch nicht artikulieren ließ.
Du schlägst die Augen auf, blinzelst
geblendet in die Sonne. Feine Schatten zeichnen sich auf Deinem Gesicht und
auch die Sorge. Dennoch lächelst Du mich an. Ich lächle zurück. Es gibt keine
andere Antwort. Es gibt nicht mehr zu sagen, will man es nicht zerstören, all
das, was sich in diesem Lächeln spricht, und in dem Blick, der mich umhüllt und
behütet, ein Blick, der mich erfasst und so wohlig aufnimmt und mir
Geborgenheit schenkt, wie es nur dieser kann. Vielleicht ist sie nicht lange,
unsere Geschichte, doch jeder Moment des Aufeinander-Zu, lebt in diesem
Lächeln, in diesem Blick. Mehr ist nicht zu sagen. Mehr kann nicht gesagt
werden. Mehr kann niemals gesagt werden.
Ich säuberte Deine Wunden und heilte sie
mit Kräutern, und langsam neigte sich der Winter doch noch seinem Ende. So
bitterkalt er sich gezeigt hatte, so versöhnlich und erwärmend war der
aufbrechende Frühling. Langsam erholte sich Dein Körper, und wir konnten
hinausgehen in den Sonnenschein. Wohl musste ich Dich noch stützen, aber Du
warst genesen, doch Dein Geist war noch umwölkt von diesem Schmerz, den ich mit
meinen Kräutern und Verbänden nicht heilen konnte. Und nach langer Zeit
öffnetest Du Dich und erzähltest mir Deine Geschichte. Der Schmerz fand einen
Weg.
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