Manchmal wird es nicht mehr gut
Es war ein wunderschöner Tag im Oktober. Außerordentlich
warm war es für diese Jahreszeit. Dennoch sollte man es nicht unterschätzen.
Auch wenn tagsüber die Sonne schien, nachts wurde es schon bitter kalt.
Besonders in diesen Breitengraden. Die Sonne war zu sehen. Die wärmenden
Strahlen spürte man auf der Haut. Um 11.00 Uhr vormittags auf jeden Fall. Die
Kälte der Nacht war gerade nicht präsent, aber sie hatte sie gespürt, als sie
während der letzten Nacht auf den Balkon trat um frische Luft zu schnappen. Die
Erschöpfung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Wie viele Nächte waren
es jetzt, dass sie keine Ruhe fand? Es war nicht nur die Ungewissheit, die sie
umtrieb. Auch nicht nur die Einsamkeit, die sie überfiel wie ein hungriger
Wolf, umzingelt von tausenden Menschen, eingepfercht in Menschenställen. Kaum
Platz zum Atmen. Kein Platz zum Leben. In der Wohnung über ihr, da wohnte eine
Familie mit vier Kindern. Unter ihr lebte ein Mann, der regelmäßig trank und
seine Frau verprügelte. All das wusste sie. Jeder wusste es. Niemand sagte
etwas. Niemand mischte sich ein. Jeder hatte dieselben Sorgen und Probleme.
Würde man morgen noch Arbeit haben? Arbeit, die so viel einbrachte, dass man
gerade nicht verhungerte. Aber Leben? Immer noch besser als gar nichts. Nicht
besser als gar nichts? Wer jeden Tag ums Überleben kämpfen muss, begehrt nicht
auf. Er hat keine Zeit. Er hat keine Kraft. Er lernt sich zu ducken. Und sie
duckte sich immer. Doch selbst das hatte nichts geholfen. Sie wurde trotzdem
entlassen. Rationalisierung, hatte es geheißen. Und nun verlor sie auch die
Wohnung. Dann würde sie das Brüllen der Kinder über ihr und die Schreie der
Frau unter ihr nicht mehr hören müssen. Dennoch war es kein Trost. Sie dachte
nicht an die ober ihr und nicht an die unter ihr. Sie kannte sie nicht. Nur das
Brüllen und Schreien. Wenn sie die Treppe hinunterhuschte und jemand begegnete,
achtete sie sorgfältig darauf sich so nahe wie möglich an der Mauer
entlangzubewegen. Den Blick hielt sie gesenkt. Die Mauer gab ihr Halt. Sie war
wie ein Schatten. Abgemagert und konturenlos. Die Sonne schien trotzdem. Nicht
für sie. Aber es war ein wenig warm. In ihrer Wohnung war es immer kalt
gewesen. Sorgfältig wickelte sie noch einen Stoff um das Bündel, das vor ihr
auf dem Tisch lag. Was sollte sie mitnehmen? Sie hatte nicht viel. Das was sie
hatte war nicht wert mitgenommen zu werden. Das Bündel nahm sie in den Arm.
Heute würden sie kommen und sie aus diesem Loch schmeißen, dass sie Wohnung
genannt hatte. Aber es war immerhin ein Dach über dem Kopf gewesen. Jetzt hatte
sie nicht einmal mehr das. Da war auch niemand, an den sie sich wenden konnte.
Sorgfältig schloss sie die Türe hinter sich. Es war nicht notwendig
abzuschließen. Das Bündel trug sie im Arm. Die Treppe hinunter, an die Wand
gedrückt, doch es war niemand da. Ungesehen verließ sie das Haus und ging
weiter, und weil sie nicht wusste wohin, einfach geradeaus. Sie ging und ging.
Einfach einen Fuß vor den anderen stellen. Bis sie nicht mehr konnte. Auf einer
Bank machte sie Rast und legte das Bündel auf den Boden. Inmitten von achtlos
hingeworfenem Müll. Dann ging sie weiter. Und das Herz war ihr schwer.
Als man das Bündel drei Tage später fand, waren die Menschen
nicht die ersten. Die streunenden Hunde waren schneller gewesen und hatten den
Inhalt angeknabbert. Feines Fleisch. Doch der Tod kam nicht durch die Hunde,
sondern durch die Nacht, denn es war erfroren. Es konnte höchstens eine Woche
alt gewesen sein, als es starb. Niemand wusste wem es gehörte. Niemand
vermisste es. Die Mutter war gegangen. Das Herz war ihr schwer. Sie war
gegangen bis sie nicht mehr konnte. Dann legte sie sich nieder, ungeschützt.
Und die Hunde fanden sie, vor den Menschen.
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