Sich selbst zu überwinden
Maria von Matialis machte sich selbst und ihren
Vorstellungen von sich selbst keine Ehre mehr. All die Stärke, die in ihrem
Auftreten lag und ihren Taten, war verloren gegangen, irgendwo auf dem Weg
zwischen Wien und diesem abgelegenen Ort. Irgendwo zwischen den Tagen hatte sie
sich selbst verloren. Vielleicht war verloren nicht ganz das richtige Wort. Es
war mehr eine Diskrepanz zwischen dem was sie von sich selbst erwartete und wie
sie sich sah, und dem, was sie hier tat und präsentierte. Eine Kluft, die
mitten durch sie selbst hindurchging, scheinbar unversöhnlich und ohne die
geringste Möglichkeit die beiden Teile wieder zu versöhnen. Sie begann ihr bisheriges
Leben zu hinterfragen, und allein dieses Hinterfragen ängstigte sie.
Bisher war alles so einfach uns selbstverständlich gewesen. Niemals war sie auf die Idee gekommen, dass es eine andere Möglichkeit überhaupt gäbe. Feinsäuberlich hatte sie sich alles zurechtgezimmert, und ein paar Tage, ein paar Kilometer genügten um das Gebäude ins einen Grundfesten zu erschüttern. War es denn wirklich auf solch einem wackeligen Untergrund erbaut worden? Andererseits, was sollte sie sonst tun? Verzweifelt hielt sie an etwas fest, was nicht mehr zu halten war. Es war, als würde sie ihr Ich von ein paar Tagen über einem Abgrund baumeln sehen. Gerade noch hielt sie es fest, doch sie wusste, bald würde sie keine Kraft mehr haben und müsste loslassen, zusehen, wie es unwiederbringlich im Strudel der Vergangenheit aufgesogen wurde. Aber wenn sie hochsah, war da nur eine Nebelwand, die sich zwischen dem Bisher und die Zukunft stellte. Kein Sonnenstrahl drang hindurch. Nicht der kleinste Luftzug war da, der sie transparenter hätte werden lassen können. Alles verloren ohne etwas gewonnen zu haben.
Bisher war alles so einfach uns selbstverständlich gewesen. Niemals war sie auf die Idee gekommen, dass es eine andere Möglichkeit überhaupt gäbe. Feinsäuberlich hatte sie sich alles zurechtgezimmert, und ein paar Tage, ein paar Kilometer genügten um das Gebäude ins einen Grundfesten zu erschüttern. War es denn wirklich auf solch einem wackeligen Untergrund erbaut worden? Andererseits, was sollte sie sonst tun? Verzweifelt hielt sie an etwas fest, was nicht mehr zu halten war. Es war, als würde sie ihr Ich von ein paar Tagen über einem Abgrund baumeln sehen. Gerade noch hielt sie es fest, doch sie wusste, bald würde sie keine Kraft mehr haben und müsste loslassen, zusehen, wie es unwiederbringlich im Strudel der Vergangenheit aufgesogen wurde. Aber wenn sie hochsah, war da nur eine Nebelwand, die sich zwischen dem Bisher und die Zukunft stellte. Kein Sonnenstrahl drang hindurch. Nicht der kleinste Luftzug war da, der sie transparenter hätte werden lassen können. Alles verloren ohne etwas gewonnen zu haben.
Schweigsam saß sie mit ihrer Großtante beim Frühstück, bis
sie es endlich auszusprechen vermochte, eine Frage, die ihr schon seit ihrem
Eintreffen durch den Kopf ging.
„Tante Magdalena, wie hältst Du es hier nur aus, so ganz
allein, immer im selben Trott?“, fragte sie endlich, und es fiel ihr so schwer,
weil sie merkte, dass es eine Frage war, die sie sich selbst nicht zu stellen
wagte, denn letztendlich war es genau das gleiche, hier wie dort, ihr Leben und
das ihrer Tante. Immer der gleiche Ablauf, jeden Tag, isoliert, wobei es bei
ihrer Tante eine freiwillige Abgeschiedenheit war, in der sie lebte, und bei
Maria die ganz normale städtische Isolierung. Einsamkeit inmitten von vielen
anderen Menschen. Eine Illusion von Verbundenheit, die es nicht gab.
„Bis Dein Onkel starb war ich nicht alleine. Wir teilten uns
das Leben hier, aber auch das Leben im Dorf. Wir waren und ich bin ein Teil
einer Gemeinschaft. Es ist unumgänglich, dass hier jeder jeden kennt, dass es
Klatsch und Tratsch gibt und man ständig belauert wird. Aber man kann auch
sicher sein, dass man Hilfe bekommt, wenn man sie braucht“ begann ihre
Großtante ruhig und gelassen zu erzählen, „Zwischen Deinem Großonkel und mir bestand
auch eine ganz besonders innige Beziehung, muss ich dazu sagen, weil wir
dieselbe Leidenschaft teilten, für das Leben und die Natur. Bis zuletzt, durch
all die Jahre hindurch sind wir uns niemals anders als mit Respekt begegnet. Am
Schluss konnten wir voneinander Abschied nehmen und ich habe das Gefühl, ich
werde bald wieder bei ihm sein. Aber auch wenn er nicht mehr bei mir ist, so
bin ich dennoch nicht alleine, denn sobald die Straßen wieder befahrbar sind,
machen sich die Menschen auf einander zu besuchen.
Gerade nach dem Winter gibt es immer viel zu tun. So hilft
man sich gegenseitig und findet auch Zeit für ein Schwätzchen zwischendurch.
Sobald es warm ist kommen auch immer wieder Schulklassen oder Familien hier auf
den Hof um einen Eindruck von der Ursprünglichkeit zu bekommen, zu sehen wie so
angestammte Tiere wie Schafe oder Rinder aussehen. Du möchtest nicht meinen wie
viele Kinder nicht mehr wissen wie eine Kuh aussieht, dass sie nicht lila ist,
wie viele den Geruch von Erde und Gras oder frischen Himbeeren kennen, die sie
direkt vom Strauch pflücken dürfen. Und doch gibt es sie immer noch, die
Sehnsucht nach dem, was unserem Boden entwächst, urwüchsig und gediegen. Es
fehlt vielen einfach die Zeit. Hier kann man erleben, dass es Zeit gibt, und
die meisten von ihnen kommen immer wieder. Schüler, die später mit ihren Eltern
kommen, weil es ihnen so gut gefallen hat, so dass es zu einem gemeinsamen
Erleben innerhalb der Familie kommt, was auch immer seltener wird. Und
späterhin kommen diese Schüler, selbst erwachsen geworden, mit ihren eigenen
Kindern hierher, und es ist so schön, wenn sie dann ihren Kindern von den
eigenen Erlebnissen berichten. Es muss etwas sein, das sie im Innersten
bewegte. Sicher gibt es immer wieder welche, denen es egal ist, aber immer
wieder sind welche darunter, die sich berühren lassen. Das ist ein wunderbares
Geschenk, das sie sich selbst machen, aber das zu beobachten, mit-erleben zu
dürfen, ist auch ein Geschenk an mich. Ich sehe die Natur im Laufe der
Jahreszeiten, die Tiere, wie sie ihr Leben genießen und es weiterschenken. Ich
sehe, wie sie sich um ihren Nachwuchs kümmern, mit aller Hingabe, bis zu dem
Tag, an dem sie befinden, es ist Zeit für sie ihr eigenes Leben zu leben. Aber
ich habe auch schon erlebt mit welcher Verzweiflung ein Lamm oder ein Kalb nach
der Mutter schrie, wenn es verstoßen wurde oder die Mutter bei der Geburt
starb. Die Natur sorgt für sich selbst, und wir sind letztendlich nur
Zaungäste. Doch so lange ich es vermag werde ich dazu beitragen inmitten einer
Welt, die Leben nur noch als ökonomischen Faktor sieht, eine Oase zu schaffen,
auf der Leben um seiner selbst willen geschätzt wird. Einfach so. Nur so.“
Und während Maria die Worte ihrer Großtante auf sich wirken
ließ, merkte sie gar nicht, wie sich die Finger entspannten, die bis jetzt
verzweifelt an ihrem alten Ich festgehalten hatten, so dass es die Klippen
hinabstürzte und unweigerlich vom Strudel verschlungen wurde. Vielleicht war
auch ein Anflug von Befreiung, von Erleichterung dabei etwas losgeworden zu
sein, was sie zum Aufrechterhalten so unendlich viel Kraft gekostet hatte, doch
noch war der Nebel vor ihr undurchdringlich, so dass sie still stehen blieb und
wartete, was sollte sie auch anderes tun. Es gab nichts mehr zu retten. Stille
trat ein. Eine Art der Unabweisbarkeit, des Abfindens und Einfindens in dem
Moment. So dass sie sich mitnehmen ließ in die täglichen Verrichtungen, die ihr
gut taten. Noch wusste sie nichts, nicht weiter, doch sie spürte, wie sie
dieses Bewusstsein nicht mehr beschwerte, sondern erleichterte. Es würde ein
Tag kommen. Es würde noch ein Tag kommen. Und jeder Tag würde etwas bringen.
Wir müssen es nicht wissen, was er bringt. Wir können es auch nicht, aber wir
können es annehmen, so wie es eben kommt und das Leben danach gestalten, Ziele
vor Augen und doch offen genug all die Dinge und Begegnungen anzunehmen, die
uns das Leben schenkt. Ziele und Pläne, die offen und weit genug sind für das
Unvorhergesehene, und nicht starr und rigide. Nach und nach lernte sie Tiere zu
unterscheiden, merkte sich ihre Namen und ihre Eigenheiten. Aber auch umgekehrt
begannen die Tiere Maria zu akzeptieren. Wenn sie den Stall betrat, so waren
sie während der ersten Tage ängstlich zurück gewichen, doch jetzt liefen sie
mit der selben Unvoreingenommenheit auf sie zu, wie sie es bei ihrer Großtante
taten. Es war ein weiteres Stück Ankommen. Maria spürte, dass es sie in einer
ganz eigentümlichen Weise berührte, angenommen zu werden, nicht aufgrund
irgendeiner Leistung, sondern als sie selbst, weil sie keine Gefahr bedeutete.
Es war auch nicht notwendig irgendwelche Statussymbole zu besitzen. Es war
gleichgültig was sie anhatte oder ob sie hübsch oder hässlich war. Für die
Tiere zählte nur, dass sie mit offenen Händen auf sie zukam, dass sie sie nicht
verletzte, dass sie vertrauen konnten. Das war alles. Sie selbst. Nichts
weiter. Sie selbst. Und das war alles, was sie hatte. Endlich wurde ihr
bewusst, mehr brauchte sie nicht, und eigentlich brauchte niemand mehr.
Und langsam lichtete sich auch der Nebel. Ein wenig konnte
sie ja noch bleiben. Es würde nichts schaden. Dachte es, während das Leben ihr
Webbild weiterwob, still und konsequent. Vielleicht würde sie morgen Uwe
anrufen, wenn sich ihr Auto fände. Bloß um Hallo zu sagen. Es wäre schön. Auch
ein wenig wegen einer Zukunft. Und es war der Abend des siebenten Advent.
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