Eine Ankunft
Maria war angekommen. Nicht nur, dass sie vor nunmehr fast
zwei Wochen das Haus betreten hatte, sondern sie war gewollt hier. Zunächst war
ein Teil von ihr noch in ihrem alten Leben geblieben, denn nur an einem Ort zu
weilen, heißt noch lange nicht dort zu sein. Bald schon zog dieser nach, der Teil
der sich gewehrt hatte gegen das Hier-sein. Aber warum hatte sie sich
verweigert? Weil wir wohl immer am bekannten hängen, an dem, was wir uns
erarbeitet und aufgebaut haben, ganz gleich ob es uns gut tut oder nicht.
Irgendwann haben wir es uns eingebildet, und dann, wenn wir es haben, dann kann
es doch nicht falsch sein, darf es nicht sein. Es ist immer schwer loszulassen,
denn wir haben Angst vor den leeren Händen, vor dem Moment, da wir unsere Hände
ansehen und meinen nichts mehr zu haben. Doch dann wird uns etwas Neues
hineingelegt, irgendwoher. Es ist unsicher. Zu unsicher. So doch lieber
Sicherheit und Gewohnheit. Aber mittlerweile merkte Maria, dass sie mit
zunehmenden Widerwillen daran dachte wieder weggehen zu müssen, Widerwillen
gegen das, was sie bei dem Praktikum erwartete. Dabei war es doch vor wenigen
Tagen noch das gewesen, was sie sich am meisten gewünscht hatte. Was war nur
mit ihr passiert? War sie denn wirklich so flatterhaft und wankelmütig, dass
sie gerade noch so dachte und im nächsten Moment ganz anders? Und wenn sie auf
dieses Praktikum verzichtete, wäre sie nicht furchtbar undankbar? Undankbar den
Menschen gegenüber, die ihre ganze Hoffnung in sie setzten, die sich
rückhaltlos für sie einsetzten?
„Diese Chance erhalten nur die Besten der Besten“, klangen
Maria noch die Worte ihres Professors im Ohr, „Ich kann mich also darauf
verlassen, dass Sie Ihr Bestes geben.“ Es war keine Frage, es war ein Befehl.
„Natürlich können Sie sich auf mich verlassen“, hatte Maria
gefällig geantwortet, „Ich fühle mich sehr geehrt.“
„Wissen Sie“, setzte der Professor fort, doch er stieg
erstmals von seinem Schreibtisch herunter, auf dem er Studenten gegenüber zu
sitzen pflegte und wandte sich ab von ihr, hin zum Fenster, als wollte er
nicht, dass sie sah, dass er was sagte, „Ich hätte alles dafür gegeben solch
eine Chance zu erhalten. Das, was Sie jetzt bekommen, das geht nur, weil sich
die richtigen Leute an der richtigen Stelle für Sie einsetzen. Mir war dieses
Glück nicht vergönnt, so dass ich viele Jahre länger brauchte um das zu
erreichen.“
„Und ich habe es mir erarbeitet“, wollte Maria schon sagen,
aber sie verkniff es sich. Stattdessen hörte sie sich Dinge sagen, wie „Das
Leben ist oft ungerecht“ oder so etwas Ähnliches. Aber so sehr sie sich auch bemühte,
es war nicht ihr Traum, und es wurde auch nicht ihr Traum. Jetzt erst, einige
Wochen später, wurde ihr bewusst, dass es für ihren Wohltäter nicht um sie
gegangen war, sondern sie sollte stellvertretend für ihn seinen Traum erfüllen.
Maria fühlte sich mit einem Mal verraten und missbraucht. Missbrauch ihres
Lebens für ein anderes. Wie sehr doch Dankbarkeit manchmal missbraucht wird.
Ewig würde sie ihm dankbar sein müssen. Für immer in seiner Schuld stehen, und
das, obwohl sie es gar nicht wollte. Aber was wollte sie dann? Vielleicht hatte
sie nur so bereitwillig zugestimmt, weil ihr jemand die Last abnahm zu
überlegen was sie wollte. Er hatte es ihr einfach vorgegeben, und sie hatte
danach geschnappt, wie der Hund nach einem Knochen, Aber noch hatte sie Zeit es
sich zu überlegen. Sie hatte Zeit die Entscheidung wegzuschieben, und sie hielt
inne, mitten in der Bewegung.
„Warum kann die Zeit nicht einfach stehenbleiben und sich
dieser Tag wiederholen, immer und immer wieder, bis ans Ende meiner Tage, oder
zumindest so lange, bis ich weiß was ich will, bis ich weiß wohin ich gehöre“,
brach es aus Maria heraus, und sie war so versunken, dass sie gar nicht merkte
wie Martin, der Eselwallach, die Gelegenheit ihrer Geistesabwesenheit nutzte um
in aller Ruhe die Karotten aus ihren Händen zu fressen, die sie gerade hielt um
sie an die Tiere zu verteilen. Mitten im Stall stand sie. Erst als sich Martin
genüsslich die letzte Karotte einverleibte, kehrte Maria zurück. Dann endlich
begriff sie was passiert war, „Weißt Du, wenn ich mich einmal entschieden habe,
dann gibt es kein Zurück mehr. Ich kann nicht in ein paar Wochen sagen, ich
will jetzt doch das andere. Es ist irreversibel. So wie die Karotten nun
irreversibel in Deinem Bauch gelandet sind. Also zumindest in der
Karottenform.“ Martin ließ sich nicht beirren durch ihre Worte. Gemütlich fraß
er weiter, bis auch der letzte Zipfel verputzt war. Sollte sie nur. So lange
sie es nicht in Erwägung zog ihm das Futter zu entziehen, konnte sie von ihm
aus reden so lange und so viel sie wollte. Dafür ließ er sich auch zwischen den
Ohren kraulen.
„Aber jetzt raus mit Euch“, sagte Maria lachend, und entließ
die Tiere auf die Weide, damit sie sich in Ruhe an die Säuberung des Stalles
machen konnte. Das vertraute Geräusch stapfender Hufe hörte sie, und das
Gackern der Enten, die jeden ihrer Gänge lauthals kommentierten, doch dann war
etwas anders. Da mischte sich ein Geräusch in das Vertraute, das nicht hierher
gehörte und das sie schon lange nicht mehr gehört hatte. „Das gibt es doch
nicht“, schoss es Maria unwillkürlich durch den Kopf, „Wie verirrt sich ein
Auto hierher?“
Neugierig steckte sie den Kopf aus dem Stall. Es war
tatsächlich ein Auto, ein dunkler Jeep. „Der kann sich doch nur verfahren
haben“, meinte Maria, doch es wirkte nicht so, denn der Fahrer schien genau
dort zu sein, wo er hin wollte. Rasch sprang er aus dem Auto und schritt auf
die Türe zu.
„Das kann nicht wahr sein!“, dachte Maria, doch sie fühlte
sich, als hätte sie während der letzten Sekunden Wurzeln geschlagen und käme
nicht mehr weg, „Aber es muss wohl wahr sein, denn ich sehe es doch, mit meinen
eigenen Augen.“
Der Gang, die Art die Hand in die Jackentasche zu stecken,
all das war ihr vertraut, so wie ihr der Fahrer vertraut war. Nur der gehörte
ganz und gar nicht hierher. Endlich gelang es ihr doch sich aus ihrer
Erstarrung zu lösen und ebenfalls ins Haus zu gehen.
„Hallo Maria“, sagte der Mann, der soeben das Haus betreten
hatte und sich bereits in einem angeregten Gespräch mit Magdalena befand, das
er kurzerhand unterbrach, als er Maria sah, um lächelnd auf sie zuzugehen.
„Hallo Uwe“, entgegnete Maria kurz, „Wie ... was ... warum.“
„Nun setzt euch doch mal, ich werde uns Tee machen“, meinte
Magdalena und begab sich in die Küche.
„Was wolltest Du fragen?“, meinte Uwe, immer noch lächelnd.
„Wie kommst Du hierher? Was machst Du hier? Warum bist Du
gekommen?“, brachte es Maria nun doch zustande ihre Fragen zu komplettieren.
„Das war alles nicht so schwer“, meinte Uwe, „Ich habe heute
Deine Postkarte bekommen und nachdem ich Dich seit mehreren Tagen nicht
erreicht habe, habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin hergefahren. Ich
hatte schon die Befürchtung, Dir wäre etwas passiert.“ Er hielt inne um sie
genau zu betrachten, „Und es ist auch was passiert, aber etwas mit dem ich
nicht gerechnet habe.“
„Aber wie hast Du mich gefunden?“, fragte Maria weiter, den
letzten Satz geflissentlich überhörend.
„Also nichts einfacher als das“, erwiderte Uwe lachend, „Ich
stamme aus einem kleinen Dorf in Kärnten. Ich weiß genau wie man mit den Leuten
reden muss, um alles zu erfahren was ich erfahren will. Die Menschen, oder die
meisten von ihnen, die am Land leben haben offenbar immer das dringende
Bedürfnis ihre Informationen mit anderen zu teilen.“
„Ja, das ist wohl so“, meinte Maria zustimmend, „Es ist
schön, dass Du da bist.“ Überrascht hielt sie inne. War wirklich sie es
gewesen, die das gesagt hatte? Es passte nicht zu ihr, wie sie fand, aber es
fühlte sich gut an, gut und, vor allem, richtig.
„Es ist schön hier zu sein“, ergänzte Uwe, während er sie
sacht in die Arme nahm. Es tat gut sich auszuruhen, anzulehnen, anzukommen. Und
ein Ankommen muss nicht unbedingt ein Ort sein. Vier kleine Welpen wuselten um
ihre Füße. Der dreisteste unter ihnen versuchte seine kleinen Welpenzähne an
Uwes Hosenbein aus.
„Der kleine Racker wird wohl der Rudelführer werden“, sagte
Uwe lachend, „Aber er ist ja auch der Hahn im Korb.“
„Woher weißt Du das?“, fragte Maria irritiert, Uwes Umarmung
ein wenig lockernd, dass sie ansehen konnte.
„Ich habe sie mir ein wenig näher angesehen“, erklärte er.
„Willst Du den Hof sehen?“, fragte Maria, mit einem
Seitenblick auf Magdalena, „Wie lange wirst Du bleiben?“
„So lange ich darf“, entgegnete Uwe kurz, und Magdalenas
Nicken war ein Einverständnis. Fast hätte Maria gemeint, es wäre das gewesen
worauf Magdalena gewartet hatte. Nun saß sie wieder neben dem Ofen und
beobachtete das Geschehen voller Freude.
An diesem Abend saßen sie zu Dritt am Tisch, während das
Webschiffchen weiterfuhr, einen neuen Abschnitt beginnend, der erst die ersten
Konturen zeigte, aber unverkennbar da war, am Webbild des Lebens. Und es war
der Abend des vierzehnten Advents.
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