Der Baum des Lebens
„Komm, lass uns den Christbaum schmücken“, forderte Maria
Uwe auf. Voller Unruhe und Vorfreude war sie neben ihm gesessen, hatte den
Nachmittagstee schneller als sonst getrunken, mit weniger Bedacht und mehr
Eile. Nun saß sie da, brennend darauf, dass auch er endlich den letzten Schluck
getan hätte, um endlich diese Worte zu sagen,
„Komm, lass uns einen Christbaum schmücken.“
„Ist ja gut, immer langsam mit den jungen Pferden“, sagte
Uwe lachend, weil ihn die Begeisterung, die Maria an den Tag legte nicht
gleichgültig sein ließ. Jeden Tag entdeckte er neue Facetten an ihr, die er
schätzte. So diese unbändige Begeisterungsfähigkeit, die er in dieser Form
zuvor nicht erlebt hatte. Immer wieder dachte er, jetzt lässt sie sich einmal
frei und zeigt was sie empfindet, doch jedes Mal blieb es beim Ansatz. Im
letzten Moment schaffte es doch noch sich und ihre Gefühle an die Kantare zu
nehmen und damit im Zaum zu halten. Englische Contenance, die bewahrte sie
immer. Als wenn es ein Verbrechen wäre sich zu freuen oder traurig zu sein.
Gerade wenn er meinte, jetzt schließt sie ihren Panzer auf, hinter dem sie ihre
Gefühle verbirgt und lässt zumindest ihm einen kleinen Einblick in ihr Inneres,
schloss sie wieder ab. Es war nicht mehr als eine Ahnung, und doch gab er nicht
auf, und wenn er jetzt sah, wie sie strahlte, wie ihre Augen vor Freude und
Begeisterung leuchteten, dann wusste er, es hatte sich gelohnt Geduld zu üben,
mit ihr, mit ihrer Begegnung, denn nun wurde er belohnt.
„Worauf wollen wir denn warten?“, fragte Maria, die schon längst
draußen sein wollte.
„Zum Beispiel darauf, dass ich die Säge hole“, erwiderte Uwe
lächelnd, während er sich dann doch endlich erhob.
„Ach was, wozu denn eine Säge?“, meinte nun Maria.
„Nun, mit Deiner Nagelfeile zu arbeiten würde bedeuten, dass
wir heuer keinen Christbaum im Haus haben werden“, sagte er amüsiert.
„Wer hat denn was von drinnen gesagt?“, verwunderte sich
Maria, der meinte, dass jedem klar sein müsste, dass ein Baum ins Freie gehört
und nicht in ein Haus, „Nein, wir werden draußen einen Baum schmücken, für uns
und für die Tiere, denn Jesus ist in einem Stall geboren worden, zwischen Ochs
und Esel. Da ist es doch äußerst ungerecht, wenn die dann nichts von dem Baum
haben, nichts von der Freude, die wir teilen. Oder nicht?“
„Da ist was dran“, gab Uwe zu, „Aber ich glaube nicht, dass
die Tiere draußen sonderliches Interesse an Christbaumkugeln oder Lametta
haben, wahrscheinlich noch nicht einmal an Schokolade.“
„Natürlich nicht“, stimmte Maria zu, „Jetzt komm endlich, Du
wirst schon sehen.“ Damit nahm Maria einen Karton unter den Arm und zog Uwe mit
sich mit in den Stall. Dort nahmen sie die große Scheibtruhe und füllten sie
mit allem, was den Tieren munden könnte und ihren Baum schön gestalten würde,
mit Äpfeln und kleinen Bällen aus Körnern, mit Karotten und Heu. Wenige Meter
vor dem Haus stand eine Tanne, die sie sich zu diesem Behuf aussuchten. Sie
stand gerade so nahe beim Haus, dass man sie vom Fenster aus sehen konnte, aber
auch weit genug weg, dass die Tiere sich aus dem Wald heranwagen würden um die
Geschenke auch anzunehmen. Dieser Baum war einfach ideal. Rund um den Baum
drapierten sie das Heu und auf den Baum selbst hängten sie die Karotten und die
Äpfel und was sie sonst noch Leckeres gefunden hatten. Zuletzt erst öffnete
Maria den Karton, den sie mitgebracht hatte. Zum Vorschein kamen Strohsterne
und kleine, aus Holz geschnitzte Anhänger. Da fand sich eine Krippe und ein
Stern ebenso wie eine Glocken und andere weihnachtliche Symbole. Zuletzt setzte
Maria auf die Spitze etwas, das aussah, wie eine Spirale und dem Baum krönte.
Erst dann trat sie einen Schritt zurück und prüfte ihr Werk.
„Was sagst Du?“, wandte sich Maria an Uwe, nachdem sie sich
einige Momente der stillen Betrachtung gegönnt hatten.
„Ich finde, er ist wunderschön geworden“, meinte er
nachdenklich, „Nicht, weil er so außergewöhnlich dekoriert wäre, sondern weil
er mit dem Leben selbst zu tun hat, das er doch symbolisieren sollte.“
„Und das beginnt schon damit, dass man den Baum nicht
mordet, sondern ihn leben lässt“, erklärte Maria.
„Damit, dass man ihn nicht entwurzelt, sondern sich das Bild
behält. Die eigenen Wurzeln wieder zu spüren, Heimat zu begreifen, gefestigt
und gehalten“, meinte Uwe.
„Damit, dass man der sichere Halt einem erlaubt zu wachsen
und sich zu strecken, zu entdecken, zu erfahren, gehalten und geschützt“,
setzte Maria fort.
„Ist so gesehen das Weihnachtsfest ein wunderbares Symbol
für die Verbindung verschiedener Kulturen und Traditionen, zu einem Ganzen,
ohne, dass etwas untergehen oder das eine dem anderen weichen muss?“, fragte
nun Uwe.
„Die Verschmelzung zwischen christlichem Glauben und
keltischer Mythologie?“, fragte Maria.
„Genau das“, meinte Uwe, „Denn das Christentum kam und
brachte die Botschaft von der Geburt Christi. Und die Kelten hatten das Symbol
des Weltenbaumes, das Fest der Wintersonnenwende. Statt das eine zu
favorisieren und das andere auszumerzen, haben sie einen Weg der Verbindung
gesucht und gefunden. Der Baum, der, geerdet durch die Wurzeln, die Äste gen
Himmel erhebt, dem Licht und der Sonne zugewandt, groß und stark, anderen
Unterschlupf gewährend und nährend. Gibt es denn ein schöneres Bild für
Christus, der als Mensch unter Menschen kam, die Erde und das Fleisch nicht
scheute, sondern vielmehr in ihre Hülle schlüpfte, zu verstehen was es heißt,
Mensch-sein in all seiner Gebrochenheit. Der Baum, der schützt und nährt und
Unterschlupf gewährt, der auffordert alle, die seiner bedürfen, zu ihm zu
kommen. Mensch-sein, als das letztlich alles Verbindende. Du und ich. Wo nichts
zählt als das Mensch-sein an sich. So wie Jesus keine Berührungsängste hatte.
Aussätzige und Verstoßene, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Tiere und
Pflanzen, alle nahm er an, unterschiedslos.“
„Nicht ganz“, korrigierte Maria, „Er wandte sich mit durchaus
verständlicher Wut gegen alle, die das Mensch-sein verrieten, und damit das
Leben. Menschlichkeit und Lebendigkeit als das höchste Gut.“
„Und in der Nacht der Wintersonnenwende, wo die Tage endlich
wieder beginnen länger zu werden, wo es von Tag zu Tag mehr Licht gibt und das
Leben von Neuem erwacht, immer ein wenig mehr“, sagte Uwe versonnen, „Der
Winter und die Kälte und die Finsternis ziehen sich nach und nach immer mehr
zurück, so dass der Zyklus des Lebens, des Werdens und Erblühens wieder von
Neuem beginnen kann. Eigentlich liegt es auf der Hand es zu vereinen.“
„Dennoch muss man es wollen um es zu sehen“, meinte Maria,
„Nur wer die Versöhnung will, wird sie auch erreichen, denn er stellt das
Verbindende über das Trennende, fügt was sich fügen lässt und lässt das
Unfügbare nicht in den Mittelpunkt rücken. Wer jedoch die Versöhnung nicht
will, wird immer etwas Trennendes finden, das er ins Zentrum des Denkens
stellen kann, um alles Verbindende dahinter zu verbergen.“
„Es geht letztlich nur ums Wollen“, erklärte Uwe, „Aber ich
weiß nicht, stimmt das wirklich so, kann das so stimmen? Wäre das nicht alles
viel zu einfach? Es kann doch nicht sein, dass alle Probleme und Differenzen so
leicht zu lösen wären?“
„Warum denn nicht?“, fragte Maria folgerichtig.
„Weil wenn es so einfach wäre, dann wäre es doch eine
Schande es nicht zu tun“, erwiderte Uwe unwillkürlich.
„Nur wenn es Dir um nichts anderes ginge als um
Selbstbehauptung, dann wäre es auch schwer, weil Du es Dir schwer machst“,
sagte Maria schlicht, „Es ist die Angst, dass man sich selbst preisgibt, wenn
man toleriert, dass es auch anderes gibt, das durchaus neben dem Eigenen
existieren könnte, wenn man sich fest verwurzelt weiß.“
„Viele sind entwurzelt in den Raum der Beliebigkeit“, setzte
Uwe hinzu, „Ohne Halt, ohne Stütze kann einen auch der kleinste Windhauch
umwehen.“
„Aber wer sich Zeit lässt und seine Wurzeln wachsen lässt,
der braucht sich nicht zu fürchten“, meinte Maria sinnend, „Das wäre mein
Wunsch für die Welt zu dieser Weih-nacht, dass jeder einen Platz hat, an dem er
seine Wurzeln wachsen lassen kann, so dass sich niemand mehr fürchten muss,
nicht vor dem Fremden und Unbekannten, sondern diesem offen und neugierig
entgegentreten kann.“
„Denn etwas Neues kennenzulernen heißt nicht etwas anderes
verlieren zu müssen“, sagte nun Uwe, „Auf der Welt ist genug Platz für jeden
Menschen und sein Eigen-sein, eigentlich.“
„Und ich habe meinen Platz bei Dir gefunden“, fügte Maria
hinzu.
„Und ich den meinen bei Dir“, schloss Uwe und Maria in die
Arme.
Magdalena sah durch das Fenster auf den Baum und die beiden
jungen Menschen und freute sich über das Wunder der Liebe, die begann Wurzeln
zu schlagen und sich einwob in das Webbild des Lebens. Und es war der Abend des
zwanzigsten Advents.
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