Erstes Erwachen
Maria von Matialis hatte noch tief und fest geschlafen. Die
Geräusche ihrer Umgebung drangen vor bis in ihre Träume. Der Sturm, der mit
unverminderter Heftigkeit ums Haus fegte und das anhaltende Prasseln des
Schnees gegen die Scheibe. Sie war wieder das kleine Mädchen, das in ihrem
Zimmer auf der Fensterbank saß und das Treiben vor dem Fenster beobachtete. Die
Schneeflocken waren ihr wie tanzende kleine Elfen erschienen, angetan mit
blütenweißen Kleidchen, einem winzigen Häubchen auf dem silbernen Haar und über
und über mit Elfenstaub bedeckt. Unzählige kleine Glöckchen. Da saß sie und
wartete, dass Peter Pan sie holen käme, weg von diesem Ort des Elends und der
Verwahrlosung in ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten, nach Nimmerland.
Ab und zu wagte sich diese Erinnerung noch in ihre Träume, doch im Leben hatte
sie das Träumen schon längst abgestellt. Einem Kind durfte man das gestatten,
aber sie war nun erwachsen, mit beiden Beinen im Leben stehend, während sie
alles dafür tat, dass sie nicht wachsen konnte. Sorgsam beschnitt sie jeden
Trieb, der sich auch nur anschickte in eine Richtung zu wachsen, der ihr
suspekt schien. Ihre Selbstkontrolle war allumfassend, denn um etwas zu
erreichen muss man sich 100%ig darauf konzentrieren und alles andere aus dem
Blick lassen. Und ihre Ziele waren so simpel. Und eigentlich galt das auch für
das kleine Mädchen in ihren Träumen, die nichts weiter wünschte als das stille
kleine Glück der Zugewandtheit. Doch sie dachte immer, es läge am Geld. Wenn
sie einmal genug Geld hätte, dann würde alles funktionieren, dann würde sich
das Glück ganz von selbst einstellen. Zur Not könnte sie es sich ja kaufen.
Eine neue Handtasche macht glücklich. Neue Schuhe machen glücklich. Zumindest
ein wenig. Für mehr Glück müssten es eben viele Handtaschen und viele Schuhe
sein. Deshalb schüttelte sie das kleine Mädchen so schnell wie möglich ab, als
würde es ihren Ansinnen im Wege stehen. Vielleicht noch ein Blick auf die
tanzenden Elfen, die sich zu einer leisen Melodie wiegten und den glitzernden
Elfenstaub versprühten. „Warum nur waren sie so großzügig damit?“, hatte sich
Maria jedes Mal gefragt, „Man muss doch acht haben, dass er nicht ausginge.
Denn ohne Elfenstaub könnten sie nicht fliegen.“ Dabei war es nicht wichtig.
Was zählte war, dass die Kinder an sie glaubten, denn ohne diesen Glauben
müssten sie sterben. So wie der Mensch aufhört zu existieren, wenn niemand mehr
da ist, der an ihn denkt. Das scheinbare Glück, das Maria in den Dingen suchte,
lag in Wahrheit in der Zugewandtheit. Plötzlich mischte sich ein unangenehmes
Geräusch in ihren Traum, zerriss die leichte, leise Melodie, so dass sie
klirrend zu Boden fiel, während die Elfen ihren Tanz vergaßen und wild
durcheinanderstoben. Irritiert sah sich Maria um, langsam den Traum verlassend,
als würde das Sehen beim Hören helfen. Blinzelnd sah sie aus dem Fenster, vor
dem sich die Dämmerung durch das Schneegestöber kämpfte um ein klein wenig
Licht zu schenken. Da endlich erkannte sie es, dieses hohe, schrille Geräusch.
Es war der Hahn. „Und das mitten in der Nacht!“, dachte sie verärgert, „Wie
spät ist es denn?“ Sie tappte neben ihrem Bett auf dem Nachtkästchen blindlings
herum, als ihr einfiel, dass ihr Handy noch im Auto lag. Und das Auto, das lag
vergraben unter einer Schneewehe irgendwo dort draußen. Nicht nur ihr Handy war
dort. Auch ihr Laptop und all die anderen Sachen, die sie ganz dringend
benötigte. Wie sollte sie es aushalten, hier in dieser Wildnis, ohne Handy,
ohne Laptop? Wie sollte sie die Zeit überstehen ohne Kontakt zur Außenwelt? In
diesem Moment war sie sich sicher, dass sie durch tödliche Langeweile langsam
und qualvoll dahingerafft werden würde, hier am Ende der Welt, zwischen dem
Nichts und dem Vielleicht. Niemand würde es bemerken. Irgendwann fänden sie
dann ihren Wagen. Vielleicht im Frühjahr, aber dann käme jede Rettung zu spät.
Denn mehr als einen Tag ohne elektronische Unterstützung, das war bereits zu
viel. Damit schien sie sich abfinden zu müssen. Aber schon im nächsten Moment
war sie wieder ganz bei sich. Sie musste sich nicht abfinden, sondern alles
probieren was möglich war. Dann könnte sie immer noch aufgeben. Energisch
schwang sie die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die kuscheligen
Hausschlapfen, die ihr ihre Großtante gegeben hatte. Das Zimmer war klein, aber
gemütlich. Viel war nicht notwendig. Ein Bett, ein Kasten, ein Nachttisch, eine
Kommode. Alles aus massiven Holz gefertigt. Viele Jahrzehnte hatten diese Möbel
wohl schon überdauert, und so weit kein Mensch Hand anlegte, würden sie es wohl
noch viele weitere. Es war einfach und bescheiden, und doch war es nicht die
Armut, die sie kannte und floh. Armut ist die Verlassenheit. Einfachheit ist
der Wille den Raum zu lassen für das Miteinander. So sehr sie sich dagegen
sträubte, oder zumindest sich dagegen zu sträuben versuchte, es keimte bereits
ein kleines Pflänzchen des Wohlfühlens in ihr. Verborgen zwar, so dass sie es
geflissentlich ignorieren konnte, aber es war da, unausweichlich, als hätte sie
keine Wahl. Maria verließ das Zimmer und betrat die Wohnstube, die von dem
großen Kamin beherrscht wurde. Ein lustiges Feuer prasselte bereits darin, das
den Raum mit anheimelnder Wärme erfüllte. Ihre Großtante saß auf der Eckbank
und lud Maria ein sich zu ihr zu setzen. „Guten Morgen!“, sagte sie lächelnd,
während sie eine Tasse mit dampfenden Kaffee vor sie stellte und eine Schüssel
mit etwas, was wohl einem Müsli ähnelte, „Hast Du gut geschlafen?“ „Ja, danke“,
entgegnete Maria kurz, „Wie spät ist es denn?“ „Sechs Uhr ungefähr“, erklärte
ihre Großtante. Ihre sanften blauen Augen ruhten wohlwollend auf Maria,
eingebettet in einem schmalen Gesicht, das wohl vom Alter gezeichnet war, aber
dennoch Vitalität und Lebenslust ausstrahlte. Das silbergraue Haar hatte sie
streng zurückgekämmt und in einen Knoten gebunden. Stille herrschte im Raum,
die nur vom Prasseln des Feuers und dem Eifer des Schneesturms durchbrochen
wurde, Stille, die Maria an jedem anderen Ort zur Verzweiflung getrieben hätte,
war ihr hier Entlastung. Sie konnte alles sagen, musste aber nicht. Hier musste
sie seit Langem einmal gar nichts. Der Tag lag wie ein offenes Buch vor ihr,
ohne dass irgendetwas vorgegeben wäre. Mit Erstaunen bemerkte Maria, dass es
sie weder unruhig noch nervös werden ließ. Sie nahm die Kaffeetasse in beide
Hände. Es war eine jener bemalten Email-Becher, die sie schon aus Kindertagen
kannte. Langsam kamen die Erinnerungen zurück, die Erinnerungen an so manchen
unbeschwerten Tag, den sie hier verbringen durfte. „Tante Magdalena“, sagte sie
schließlich, nachdem sie die ersten Schlucke genossen hatte und spürte, wie die
Wärme sie durchströmte, „Warum hast Du mich eingeladen?“ „Weil ich wollte, dass
Du da bist“, erklärte Magdalena kurz, doch sie spürte, dass es zu wenig war,
deshalb setzte sie hinzu, „Vor ein paar Jahren starb mein Mann. Nicht
unvorhergesehen. Er war 97 und das Herz wurde schwach. Eines Morgens, es war
ein paar Tage nach Weihnachten, da nahm er mich an der Hand und wir machten
gemeinsam eine Runde durch den Hof. An diesem Morgen nahm er Abschied, von
seiner Heimat und von mir, bevor er ruhig entschlief und nicht mehr erwachte.
Seitdem bewirtschafte ich den Hof alleine, und da tauchte immer öfter Dein Bild
in mir auf. Du warst so ein wissbegieriges, weltoffenes kleines Mädchen,
damals, in dem Sommer, den Du bei uns verbringen durftest. Es war für mich
einer der schönsten Sommer, derer ich mich entsinne. Und in meinem Leben gab es
viele Sommer. So sehr ich gewünscht hätte, Du könntest bleiben, musstest Du
doch weg, denn in diesem Herbst kamst Du zur Schule. Es war ein trauriger
Abschied, als Dich Deine Mutter wieder holte.“ „Aber warum jetzt?“, fragte
Maria beharrlich nach, die spürte wie die Bilder dieses Sommers wieder zum
Leben erwachten. Es war ein glücklicher Sommer gewesen. „Weil ich wusste, dass
es Zeit war. Vielleicht war es auch nur eine Ahnung, aber es ist schön, dass Du
da bist“, sagte Magdalena. Die Erinnerungen führten sie in den Tag, an dem
Maria mitgenommen wurde in häusliche Tätigkeiten, an dem sie backte und kochte,
den Raum für die kommenden Festtage schmückte, so dass sie die Zeit nicht
spürte und auch nicht die Abwesenheit von Dingen, von denen sie bisher meinte,
dass sie sie unbedingt benötigte, und während sie sich mit Feuereifer diesen
Tätigkeiten widmete, wurde das Schiffchen am Webrahmen angesetzt, eine neue
Reihe hinzuzufügen zum Bild ihres Lebens, und es war der zweite Tag des Advent.
Es war der Beginn eines Weges, so weit es zu erkennen war, ein schmaler Weg,
der vom Hauptweg abzweigte, der bis jetzt, gerade und stringent, das Bild
beherrscht hatte. Wohin er wohl führte?
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