Prolog
Der Fasching geht seinem Ende entgegen. Noch ein letzter
Abend, eine Nacht der Ausgelassenheit und der Exzesse, denn weil uns nun die
Fastenzeit bevorsteht, wird noch so viel wie möglich gegessen und vor allem
getrunken– oft sogar mehr. Der Sylvester, der traditionelle
Was-ich-doch-nicht-alles-besser-machen-will-Tag, ist schon lange vorbei.
Deshalb kommen heute die nächsten guten Vorsätze. 40 Tage sind auch leichter
durchzuhalten als 365. Die einen wollen auf Alkohol verzichten, andere auf
Fleisch, wieder andere auf Süßigkeiten – und ziehen dabei eine Sauermiene auf,
als würden sie gerade ihre letzte Bluse und das letzte Stück Brot hergeben, und
müssten von nun an frieren und hungern. Eine einigermaßen zynische
Veranstaltung angesichts der Tatsache, dass der größte Teil der Menschheit nach
wie vor am Rande des Existenzminimums lebt. Natürlich könnte man sagen, diese
Menschen brauchen sich um die Fastenzeit nicht zu bekümmern, denn sie tun ja
sowieso nichts anderes, aber wir, die wir in Überfluss und eingehüllt in
andauernde Unterhaltung leben, wir müssen uns schon sehr anstrengen um in der
Fastenzeit was zu leisten, um uns selbst zu kasteien. Das was für andere
selbstverständlich ist, müssen wir uns hart erarbeiten. Und sehnsüchtig wandert
der Blick auf die Tafel Schokolade, die nun endgültig im Regal eingesperrt
wird. So schwer kann das Leben sein. Damit ist der Sinn der Fastenzeit wohl
vollinhaltlich begriffen worden. Oder?
Die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern war in früherer Zeit
strengen Reglementierungen unterworfen. So war es nicht nur geboten kein
Fleisch zu essen, sondern auch keine Eier und keine Milch. Darüber hinaus gab
es die Vorschrift der einmaligen Sättigung. Das bedeutet, einmal am Tag satt
essen und das, was man sich spart den Armen zu schenken. Diese gehörten
übrigens zu den Gruppen, die von den Fastengeboten ausgenommen waren, neben
schwerarbeitenden Menschen, werdenden und stillenden Müttern, Kranken und
Kindern. Mittlerweile leben wir – und das ist einzigartig in der Geschichte –
unter Bedingungen, die es uns ermöglichen diesem Fasten eine ganz neue
Bedeutung zu geben – zumindest in der sog. „Ersten Welt“.
Einerseits kann die Fastenzeit uns frei machen, denn wer
nicht ständig braucht, nicht immer auf das Haben fokussiert ist, wird offen für
das Sein. Die Gedanken sind nicht mehr ausschließlich auf die Materialität und
das Einverleiben derselben gerichtet, sondern können über die generelle
Leiblichkeit, Fleischlichkeit hinaus zu einer Freiheit auf die Bestimmung des
Mensch-seins hin zielen, sich enthalten, indem wir uns nicht auf das fixieren,
worauf wir verzichten, und uns eben entsprechend leid tun, sondern indem wir
uns dem zuwenden, was wir gewinnen, den Blick zu richten auf das was wir sein
könnten, jenseits der Fixierung auf unsere Abhängigkeiten.
Aber es ist auch die Zeit, die zu Ostern hinführt, dem
Hochfest der Auferstehung, der ein grausamer Tod vorangeht. Nicht das Sterben
an sich ist das Beklemmende, sondern das Sterben dessen, der als Wort Gottes
Fleisch angenommen hat um den Menschen nahe zu sein, das Sterben dessen, der
sich Sohn Gottes nennt und sich für uns bis aufs Äußerste entäußert, sich
hinabbegibt in die tiefste aller Tiefen und die fernste aller Fernen, in die
umfassendste Verlassenheit und die totale Einsamkeit. Nicht nur einfache
Verlassenheit, Einsamkeit, sondern die totale Selbstentäußerung, bis in das
alles vernichtende, sich selbst nicht schonende, Nichts hinein, eine
Entäußerung, die über alle Vorstellungskraft, alles Elend und alle Not, die
denkbar sind, selbst von einem oftmals so kranken Hirn wie das des Menschen,
reicht. Eine Unvorstellbarkeit des Schmerzes und der Entsagung, die eigentlich
EndZeit bedeutet, die jedoch durch die Auferstehung in eine FastEndZeit
aufgelöst wird. So führt die Absolutheit in eine Erlösung, zwar innerweltlich,
aber doch mit neuen Möglichkeiten gesegnet. 40 Tage FastEndZeit.
1. Die Unwägbarkeiten des Lebens
Der Schwall geschah
vierzig Tage, vierzig Nächte auf die Erde.[1]
Vielleicht begann es einfach damit, dass dichte Wolken
aufzogen, dass es mitten am Tag finster und düster wurde. Nacht mitten am Tag.
Bedrohlich näherte sich der Himmel der Erde. Nicht um mit ihr zu verschmelzen,
sondern um sie zu bedrohen. Dort, wo die Wolken auf den Gipfel stießen, auf
einen der hohen, ganz hohen, dort riss die Hülle entzwei, und der Groll des
Donners zerfetzte die Luft. Beispiellos. Die Menschen verkrochen sich in ihren
Häusern. Man darf nicht vereinen, was zu Recht getrennt wurde. Man darf nicht
trennen was zu Recht vereint wurde. Und doch machen wir es täglich, vereinen
die Schuld mit der Unschuld, das Unberührte mit dem Berührten, das Nahe mit dem
Fernen, und wir trennen das Miteinander und das Verstehen, lösen es auf in ein
nebulöses Irgendwie. Beliebigkeit und Beiläufigkeit. Es betrifft uns nicht mehr
als getrennt. Es betrifft uns immer weniger. Es ist einfach zu viel, was
Betroffenheit auslösen sollte. Wir schaffen es nicht mehr. Die Flut vom Himmel
stürzt auf uns herein.
Jeden Tag trifft uns die Flut an Meldungen und
Informationen. Ein, zwei lesen wir oder hören wir uns an. Ein paar werden noch
als Überschriften, Schlagwörter wahrgenommen, doch dann ist unsere
Aufmerksamkeitsgrenze erreicht, die Aufnahmefähigkeit erschöpft. Wasser, das
vom Himmel kommt. Nach den Wolken der Regen. Wasser, das die Erde berührt und
in sie eindringt, sich zwischen Steinen und Felsen, zwischen Erdkrumen und
Sandkristallen seinen Weg bahnt. Erstarrend am Pol zu Eis. Verdunstend in der
Wüste zu Dampf. Irgendwo muss es hin. Und dann ist die Erde übersättigt. Jede
Pore ist ausgefüllt. Der Pol ist gänzlich vereist und die Luft über der Wüste
kann keinen Dampf mehr aufnehmen. Der Regen kommt vom Himmel. Unaufhaltsam. Die
Informationen kommen von allen Seiten. Sie bedrängen uns, machen uns wehrlos,
dringen in uns ein, gefrieren zu Eis oder verdampfen, bis wir ganz und gar
gesättigt sind. Doch der Regen flutet weiter. Vom ersten Tag bis zum 40. Von
der ersten Nacht bis zur 40. Dann kehrt Ruhe ein. Die Wolken waren ausgeregnet.
Es war ein Ende absehbar. Es war greifbar.
Der erste Tag Regen. Die Erde nahm ihn auf. Vielleicht noch
gierig, durstig.
Der zweite Tag Regen. Die Erde verschloss sich dem Wasser,
und es mehrten sich die schlammigen Pfützen. Tiere tranken. Und sie waren nicht
mehr durstig. Sie suchten sich einen Ort der Zuflucht, dort, wo es trocken war,
während es unablässig weiterregnete. Der dritte Tag Regen verwandelte die
Pfützen in Lacken, Tümpeln in Seen und Seen in Meeren.
Der vierte Tag Regen. Die Flüsse traten über die Ufer und
drangen immer weiter vor in das Land, das bewohnt wurde.
Der fünfte Tag Regen. Die Tiere und die Menschen wichen
zurück vor dem Wasser. Sie stiegen auf Hügel.
Der sechste Tag Regen. Das Wasser hatte vorgegebenes Terrain
schon längst verlassen und stieg immer höher. Die auf den Hügeln merkten, dass
sie nicht hoch genug waren um in Sicherheit zu sein. Sie stiegen wieder
hinunter von den Hügeln.
Der siebte Tag Regen. Und das Wasser stieg immer höher und
höher. Es war gut gewesen auf einen Berg zu steigen. Die von den Hügeln kamen
versuchten die Berge zu erreichen. Nicht immer gelang es. Es ertrank, wem es
nicht gelang. Gott ruhte am siebten Tage, hieß es, nur der Regen tat es nicht.
Der Regen war nicht Gott. Er kennt keine Zeit. Er regnet. Das ist alles, was er
zu tun hat.
Der achte Tag Regen. Immer höher hinauf stiegen die
Menschen. Die Tiere waren ihnen vorangegangen. immer kleiner wurde der Bereich,
der nicht mit Wasser bedeckt war. Kälte breitete sich aus und Hunger und
Verzagtheit.
Der neunte Tag Regen. Weh denen, die in flachen Gebieten
wohnten. Sie wurden Futter für die Fische und anderes Meeresgetier.
Der zehnte Tag Regen. Und die Fische freuten sich. Für viele
gab es kein Entrinnen mehr. Sie jedoch waren in Sicherheit.
Einfach so war es geschehen, einfach so ging es weiter, und
der Mensch erkannte, es gab Dinge, die er weder beherrschen noch zähmen konnte.
Achselzuckend sagten manche, das wären eben die Unwägbarkeiten des Lebens. Das
waren die Zyniker. Sie sind nicht alle ertrunken.
[1] Gen. 7,12. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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