Wozu bin ich?
„Ich habe lange nichts von Dir gehört“, sagte
sie, und sah ihrer Freundin fest in die Augen. Doch diese wich ihrem Blick
beharrlich aus.
„Es war keine Zeit“, entgegnete sie ausweichend,
„Du weißt ja wie das ist, mit den Kindern und der Arbeit und dem Haushalt. Und
eben mit allem.“
„Ja, das haben wir alle“, hielt sie entgegen,
„Doch mal Hallo sagen und erzählen wie es Dir geht. Das wäre doch nicht so
schwer. Dazu ist doch Zeit.“
„Meinst Du?“, fragte sie. Endlich lagen die
Hände still, und der Blick fokussierte sich auf die Freundin, „Ja, vielleicht.
Aber Du hast Dein eigenes Leben. Was hätte Dich das interessiert?“
„Ich dachte wir sind Freunde?“, meinte sie
kopfschüttelnd, „Da interessiert man sich eben.“
„Niemand interessiert sich für mich“, erklärte
sie hartnäckig, „Was hätte ich Dir sagen sollen? Was hätte ich Dir sagen
können, was Dir einen Mehrwert gebracht hätte?
Es lebt sich mit mir in Deinem
Leben nicht besser und nicht schlechter als ohne mich. Doch, besser ohne mich,
denn dann fühlst Du Dich nicht mehr verpflichtet. Ich griff zum Handy und
wählte Deine Nummer, und dachte, es könnte sein, dass Du Dich freust. Aber
warum solltest Du Dich freuen? Es gibt nichts zu freuen. Ich habe nichts mehr
zu geben. Und wenn mir jemand auf der Straße begegnet, den ich kenne, dann weiß
ich, der denkt sich, die schon wieder, da muss ich höflich sein, weil wir uns
zufällig kennen. Nicht nur, dass man sich nicht freuen kann, es ist beschwerlich.
Da muss man Hallo sagen und Floskeln austauschen. Alle verstehen sich gut. Ja,
wenn ich wer anderer wäre, dann könnte man sich freuen. Wenn ich für irgend
etwas gut wäre auf der Welt. Klar, so lange ich meine Arbeit mache und alles
passt, dann kann ich vorweisen, dass ich für was gut bin, aber alles andere.
Ich weiß nicht wie es die anderen machen. Deshalb habe ich nicht angerufen.
Deshalb habe ich nicht vorbeigeschaut. Weil es jedem ohne mich besser geht. Und
wenn mich niemand mehr braucht, wenn es nichts mehr zu erledigen oder zu
leisten gibt, dann werde ich mich still in eine Ecke setzen und warten, dass es
vorbei ist. Niemand wird fragen. Es wird besser sein als vorher. Alle werden
aufatmen.“
„Ich freue mich, wenn Du anrufst, auch wenn Du
Dir das nicht vorstellen kannst“, entgegnete die Freundin entschieden, „Wie
viel hat man an Dir kaputt gemacht, dass Du so von Dir denkst?“
„Es ist wahr, einfach wahr“, erklärte sie,
aber ihre Stimme klang verzagt, „Warum sollte sich irgendjemand freuen mich zu
sehen? Warum sollte es irgendjemanden berühren, dass ich bin? In welcher Form
auch immer.“
„Weil Du bist“, entgegnete die Freundin, „Weil
Du Gedanken hast, die niemand hat außer Dir. Weil Du eine Art hast Dich
zuzuwenden, die niemand hat außer Dir. Weil Du eine Art der Freude und der
Trauer, der Liebe und der Hingabe hast, die niemand hat außer Dir. Weil Du
bist, Du bist, so wie niemand sonst. Einfach Du. Selbst noch dort, wo Du Dich
der Freude entziehst. Selbst dort noch, wo Du Dich verloren und verraten fühlst,
ist es auf Deine Weise. Niemand kann je den Platz einnehmen, den Du einnimmst.
Nicht in dieser Welt. Nicht in meinem Herzen. Du bist die Beste darin Du zu
sein. Das kann die Welt um Dich mit Leben und Freude erfüllen.“
„Und das soll alles sein?“, erwidert sie, doch
schon weniger sicher.
„Das ist alles, und mehr kann es nicht geben“,
erklärt die Freundin, „Aber weißt Du was, wir gehen jetzt hinaus, und wir
schenken der Welt ein Lächeln. Bloß mal so. Und vielleicht kannst Du Freude
weitergeben.“
„Warum nicht. Ich habe nichts mehr zu
verlieren“, stimmt sie achselzuckend zu.
„Aber alles zu gewinnen“, sagt die Freundin
und nimmt sie bei der Hand.
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