Das Geheimnis
Die Nacht war hereingebrochen und ich hatte mich
vorbereitet, wie in jeder meiner wachen, lebendigen Nächte, und begab mich zu
meinem Steg, doch diesmal erwartete mich eine Überraschung. Am Ende des Steges
erkannte ich eine zusammengekauerte Gestalt, nein, weniger, ich erahnte sie
nur, einen schmalen Rücken, der alles daran setzte mit der Umgebung zu
verschmelzen, und es doch nicht vermochte. Sie wirkte wie eine Ausgestoßene,
ausgestoßen und verloren. Leise und wortlos setzte ich mich zu ihr. Es muss
eine ganze Weile gewesen sein, die wir hier in scheinbarer Eintracht
nebeneinander auf dem Steg saßen, bis Du Dich entschlosst die Stille zu
durchbrechen und Dich mir zu öffnen.
Du erzähltest folgende Geschichte: „Lange Jahre war ich
glücklich verheiratet gewesen. Wohl, es waren gute Zeiten und weniger gute
dabei, wie es eben so ist. Im Großen und Ganzen war ich zufrieden gewesen und
hatte den Eindruck, dass es auch mein Mann wäre. Doch ich hatte ein Geheimnis,
ein kleines Geheimnis, das ich mir von ihm auserbeten hatte. Dieses bestand in
nichts weiter als einer kleinen, unscheinbaren Schachtel, die ich in meiner
Nachttischlade aufbewahrt hatte. Darin bewahrte ich mein Geheimnis auf. Und
jedes Mal, wenn es Streit gegeben hat, nahm ich die Schachtel aus meiner
Nachttischlade, betrachtete ihren Inhalt, und nachdem ich das getan hatte, war
es mir jedes Mal möglich den Streit zu schlichten und wieder zu einem guten
Einvernehmen zu meinem Mann zu finden. Diesem blieb mein Verhalten natürlich
nicht verborgen. Zunächst jedoch gab er sich damit zufrieden, dass es eben so
war, aber immer öfter fragte er mich nach der Schachtel, noch deren Inhalt, und
es genügte vorerst ihn darauf hinzuweisen, dass er zugesagt hatte mir dieses
Geheimnis zu gönnen. Aber immer öfter,
immer heftiger forderte er ein zu erfahren was sich in der Schachtel befand,
denn schließlich könnte es nicht angehen, dass eine Frau Geheimnisse vor ihrem
Mann hätte. Und als ich trotzdem nicht nachgab, ertappte ich ihn eines Tages
dabei, dass er mit der geöffneten Schachtel auf meinem Bett saß. ‚Da ist doch
nichts weiter drin als ein schäbiger Stein.’, meinte er kopfschüttelnd. ‚Das
stimmt, im Grunde ist es nichts weiter drin als ein schäbiger Stein.“,
antwortete ich, ‚Vor vielen Jahren machten wir einen Spaziergang. Es war eine
warme Mainacht, und es war die Nacht, in der wir uns uns zusprachen, uns
füreinander öffneten. Irgendwo am Wegrand habe ich diesen Stein aufgehoben und
mitgenommen. Jedes Mal, wenn ich ihn fortan ansah, erinnerte er mich an diese
Nacht und daran, dass es möglich ist zueinander zu finden.’ ‚Und warum mußtest
Du ein Geheimnis daraus machen?’, fragte er weiter. ‚Weil die Kraft des Steins
sonst verloren gegangen wäre, und weil ich auf Dein Vertrauen und Deinen
Respekt setzte. Beides hast Du kaputt gemacht.’, antwortete ich und ging.“
Damit schloss sie ihre Erzählung, und ich sie in meine Arme.
Will ich denn wirklich alles von Dir wissen? Habe ich ein Recht darauf alles
von Dir zu wissen? Nein, ich habe weder ein Recht auf Wissen über Dich, noch
viel weniger auf Dich. Da gibt es nichts, was ich einfordern könnte, sondern es
bleibt nichts weiter als mich beschenken zu lassen, immer wieder aufs Neue, in
aller Freiheit.
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