Normal
Wie viele Träume ich wohl ad acta gelegt habe, nur deshalb,
weil mir irgendjemand sagte, dass es wohl kaum möglich ist sie zu
verwirklichen. Ganz am Anfang, da war ich nicht so leicht abzubringen, da
verlangte ich Erklärungen, damals als Kind, die sich zumeist darin erschöpften,
dass jemand, dem ich Autorität zugestand, aus dem einfachen Grund, weil dieser
erwachsen war, zu mir sagte: „Das ist halt so!“ oder „Das verstehst Du noch
nicht!“ oder „Dafür bist Du noch zu klein!“ Deshalb verlegte ich mich darauf an
meinem Verstehen zu arbeiten, denn das Großwerden geschah völlig ohne mein
Zutun. Doch umso größer ich wurde, umso mehr ich wußte und verstand, umso mehr
Fragen eröffneten sich. Im Grunde änderte sich nichts, bis auf das, dass
Autoritäten, die mir nichts Besseres zu antworten wußten, ihre Autorität
verloren. Ich war nicht aufmüpfig in einem destruktivem Sinne des einfach
Dagegen-seins, doch wer meinte Autorität zu haben, mußte es erweisen. Nicht
Amt, nicht Besitz oder soziale Stellung ließ ich als Autorität gelten, ganz
egal um wen es sich handelte, sondern nur die, die mir Antwort zu geben
vermochte, die mich ernst nahmen, im Dialog bleibend, nicht abfertigen mußten
mit fadenscheinigen Floskeln, die Gedanken wagten, über den Tellerrand hinaus,
die mich wachsen oder einfach nur sein ließen.
Wenn ein Kind zu laufen beginnt, dann wird es oft stolpern
und hinfallen. Niemand würde wohl auf die Idee kommen zu sagen: „Du hast jetzt
15 Versuche unternommen, acht davon sind gescheitert, d.h. Du hast eine Erfolgsquote
von unter 50%. Du bist durchgefallen und gescheitert. Am besten läßt Du das mit
dem Gehen lernen lieber ganz bleiben.“ Nein, das würde gewiß niemand machen.
Ganz im Gegenteil, jeder würde das Kind für seine Fortschritte loben, würde
jede, noch so kleine Verbesserung unterstreichen. Darin kommt das Scheitern
noch nicht vor. Genauso gewiß ist es jedoch, dass während der gesamten
Schulzeit genau das gemacht wird, die Fortschritte ignoriert, und das Scheitern
in Form von Fehlern, im Fokus der Betrachtung stehen. Und mit Präzision und
Vehemenz wird dem Menschen eingetrichtert, dass er nichts so sehr zu fürchten
hat wie das Scheitern. So lange zumindest, bis die innere Stimme die äußere
übernimmt, den Tatendrang lähmt, wenn auch nur der Gedanke der Möglichkeit zu
scheitern besteht.
Träume brauchen Flügel, doch die sind längst gestutzt
worden. Kinder können fliegen, so lange, bis ihnen die Angst vor dem Absturz
vehement genug eingetrichtert wurde, dass sie es nicht einmal mehr wagen die
Füße vom Boden zu heben. Ganze Arbeit wird an ihnen geleistet. Entlassen in die
Welt, flugunfähig und eingespannt in ein Gedankenkorsett. Dein tägliches Abend-
und Morgengebet laute: „Lieber Gott, lass mich normal sein.“ Leblos,
gedankenlos, traumlos, hoffnungslos, sehnsuchtslos, doch Hauptsache, fehlerlos.
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