Unverdorben
Ich stand immer noch am Fenster. Du lagst im Bett, und auch,
wenn Du stärker wurdest, zusehends, hatte die Aufzehrung schon viel zu lange
angedauert, als dass Du innerhalb weniger Nächte davon genesen würdest. Ich
sollte Dir erzählen und wollte Dir erzählen, 1000 und 1 Nacht lang, wenn es
sein müsste, doch ich wollte auch verstehen, Dich verstehen, kannte ich doch
nichts, als diese, meine Welt.
„Du bist meine Schöpferin, meine und die meiner Welt.“,
sagte ich unvermittelt.
„Das bin ich wohl, aber was macht das schon? Du bist hier,
und das ist gut.“, entgegnetest Du.
„Wunderschön hast Du mir meine Welt erdacht, mit dem See und
dem Steg und der Wiese und der Weide und der Burg. Aber vielleicht gefällt es
mir auch nur, weil ich einfach nichts anderes kenne.“, sagte ich und setzte
mich zu Dir, „Wie ist es, in Deiner Welt? Erzähl es mir.“
„Es ist anders, ganz anders. Viel größer und
unübersichtlicher, laut und hektisch.“, antwortetest Du, doch ich verstand
nicht viel davon. Doch, die Wörter an sich, die verstand ich, aber deren Sinn
nicht. Ich versuchte sie einzuordnen, Deine Worte, in meinen
Verstehenshorizont, doch da gab es nichts, wo sie sich eingefügt hätten.
„Bin ich dumm, wenn ich um das alles nicht weiß?“, fragte
ich zaghaft.
Lächelnd nahmst Du mein Gesicht in Deine Hände, in Deine
warmen, wohlwollenden Hände, und meintest lächelnd: „Nein, Du bist nicht dumm.
Weit entfernt davon. Du bist unverdorben.“
„Und Deine Welt – meinst Du, sie würde mich verderben?“,
fragte ich weiter, und nahm Deine Hände weg von meinem Gesicht, sie in die
meinen zu legen. Ich wollte mich nicht ablenken lassen, nicht einlullen und
nicht vertrösten, ich wollte wissen.
„Womöglich. Aber eigentlich sollte es nicht passieren.
Eigentlich sollte ich Vertrauen zu Dir haben.“, meintest Du sinnend, „Also sag
mir, was Du wissen möchtest?“
„Wie leben die Menschen in Deiner Welt?“, war meine erste,
wohl auch dringlichste Frage.
„Nun, sie stehen in der Früh auf und gehen am Abend
schlafen, die meisten zumindest. Wer nicht gerade in der Nacht arbeitet,
schläft zu dieser Zeit. Dann gehen sie arbeiten und haben Dinge zu erledigen,
immer viele Dinge zu erledigen. So sagen sie, ich habe keine Zeit, ich habe
Dinge zu erledigen. Und sie haben dafür zu sorgen, dass in ihrem Heim Ordnung
herrscht. Und sie haben dafür z sorgen, dass sie rechtschaffen ausgelastet
sind. Und sie haben dafür zu sorgen, dass alles immer so weitergeht. Und sie
haben dafür zu sorgen, dass sie funktionieren.“, antwortetest Du, und das Bild,
das in meinem Kopf entstand, war alles andere als freundlich. Wollte ich das
denn wirklich wissen? Ich wusste, dass Du recht hattest, ich war durchaus
unverdorben.
„Wann aber leben sie, die Menschen in Deiner Welt? Wann
begegnen sie einander von Angesicht zu Angesicht?“
„Das ist nicht vorgesehen, in meiner Welt. Wahrscheinlich
würde sogar so mancher in meiner Welt sagen, das sei Zeitverschwendung.“,
sagtest Du, um noch hinzuzufügen, „Sei vorsichtig mit den Fragen, die Du
stellst, denn es könnte durchaus passieren, dass Du eine Antwort erhältst, eine
Antwort, die Dich beunruhigen könnte.“
Ja, sie hatte mich beunruhigt, Deine Antwort, aber auch
aufgestachelt, denn hier, bei mir, in meiner Welt, da war immer alles ruhig und
beschaulich. War es nicht doch auch manchmal langweilig, in Nächten, in denen
Du nicht zu mir kamst und auch niemand anderer. Wohl, es war nur ein ganz
winziges Samenkorn, vorläufig, doch sie war da und benennbar, die
Unzufriedenheit.
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