2902 Ich lass Dich nicht mehr los


Ich lass Dich nicht mehr los


Und Zentimeter um Zentimeter wurden wir vorwärtsgeschoben, Zentimeter um Zentimeter drifteten wir weiter auseinander.

Verzweifelt versuchte ich zunächst noch mich durch zu zwängen, in die Richtung, in die ich Dich vermutete, doch da war kein Durchkommen. Mehr noch, ich wurde immer weiter weggedrängt, immer weiter weg von der Stelle, an der ich mein Kind vermutete. Verzweifelt rief ich seinen Namen, doch es schien, als würden meine Worte nicht getan sein. Mehr noch, sie verblieben in mir, ungetan verhallt. Verzweifelt versuchte ich mit der Hand mein Kind zu ertasten, doch ich stieß nur auf Leiber, irgendwelche Leiber. Mehr noch, die Berührung verstärkte die Fremdheit, als hätten meine Hände einen Stein gefaßt.

„Ich muss zu meinem Kind. Bitte lassen Sie mich durch zu meinem Kind.“, flehte ich den Mann an, von dem ich annahm, dass er zwischen mir und meinem Kind stand.
„Ich sehe kein Kind.“, antwortete er kurz.
„Doch, es ist da, es muss da sein. Gerade eben noch hielt ich seine Hand.“, fuhr ich fort.
„Dann hättest halt besser aufgepasst, und außerdem, was schert mich Dein Kind.“, gab er schroff zurück.
„Ja, ich weiß, aber ich habe nun mal nicht aufgepasst und jetzt ist es allein und verzweifelt, so wie ich.“, versuchte ich es nochmals, aber er hörte nicht mehr zu.

Und Zentimeter um Zentimeter wurden wir vorwärtsgeschoben, Zentimeter um Zentimeter drifteten wir weiter auseinander.

Ich hatte aufgegeben, ließ mich nur mehr mitnehmen mit der Menge. Endlich war ich ganz vorne angelangt, angelangt worden, dort, wo die Bahn hielt, bis die Menschen eingestiegen waren, um dann wieder abzufahren. Ich sah Halten, Einsteigen und Abfahren, immer und immer wieder.

Ja, es war meine Schuld gewesen. Vor mich hätte ich mein Kind stellen sollen, es zu halten, es mit meinem Leib zu schützen, und ihm nicht bloß die Hand reichen. Dann wären wir nicht getrennt worden, wären wir noch zusammen. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass es so einfach wäre uns zu trennen. Ich stand vor der Bahn, sah Menschen einsteigen, immer wieder Menschen einsteigen, wurde geschubst, doch ich spürte nichts mehr, nichts mehr außer dem Schmerz mein Kind verloren zu haben, nichts mehr als das schreckliche Gefühl Schuld daran zu tragen.

Wer könnte je diese Last von meinen Schulter nehmen? Wo könnte ich je Vergebung finden?

Und plötzlich war die Menge verschwunden. Weit und kahl lag die riesige Halle vor mir. Alle waren sie mit der Bahn hinaufgefahren auf den Berg, nur ich war dageblieben, allein, sonst wäre ich jetzt auch oben auf dem Berg, mit all den anderen, doch vor allem mit Dir, mein Kind, wenn nicht das Schrecklichste passiert wäre ... Doch was war das? Dort am Ende der Halle, dicht an die Wand gedrängt, da lag doch etwas. Ich rannte hinüber. Es war mein Kind, das da zusammengekauert lag. Aber warum lag es so da? Es war zertrampelt worden, von all den Menschen, einfach zertrampelt. Ich nahm es in den Arm. Es schlief nur. Friedlich und fest schlief es.

„Ich werde Dich nie mehr loslassen, nie mehr. Ich werde Dich halten, Dich und Deine Hand, bis Du sie mir entziehst, doch in meinem Herzen, in meinen Gedanken werde ich Dich immer halten.“, dachte ich, als ich mein schlafendes Kind nach Hause trug.

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