Ich lass Dich nicht
mehr los
Und Zentimeter um Zentimeter wurden wir vorwärtsgeschoben,
Zentimeter um Zentimeter drifteten wir weiter auseinander.
Verzweifelt versuchte ich zunächst noch mich durch zu
zwängen, in die Richtung, in die ich Dich vermutete, doch da war kein
Durchkommen. Mehr noch, ich wurde immer weiter weggedrängt, immer weiter weg
von der Stelle, an der ich mein Kind vermutete. Verzweifelt rief ich seinen
Namen, doch es schien, als würden meine Worte nicht getan sein. Mehr noch, sie
verblieben in mir, ungetan verhallt. Verzweifelt versuchte ich mit der Hand
mein Kind zu ertasten, doch ich stieß nur auf Leiber, irgendwelche Leiber. Mehr
noch, die Berührung verstärkte die Fremdheit, als hätten meine Hände einen
Stein gefaßt.
„Ich muss zu meinem Kind. Bitte lassen Sie mich durch zu
meinem Kind.“, flehte ich den Mann an, von dem ich annahm, dass er zwischen mir
und meinem Kind stand.
„Ich sehe kein Kind.“, antwortete er kurz.
„Doch, es ist da, es muss da sein. Gerade eben noch hielt
ich seine Hand.“, fuhr ich fort.
„Dann hättest halt besser aufgepasst, und außerdem, was
schert mich Dein Kind.“, gab er schroff zurück.
„Ja, ich weiß, aber ich habe nun mal nicht aufgepasst und
jetzt ist es allein und verzweifelt, so wie ich.“, versuchte ich es nochmals,
aber er hörte nicht mehr zu.
Und Zentimeter um Zentimeter wurden wir vorwärtsgeschoben,
Zentimeter um Zentimeter drifteten wir weiter auseinander.
Ich hatte aufgegeben, ließ mich nur mehr mitnehmen mit der
Menge. Endlich war ich ganz vorne angelangt, angelangt worden, dort, wo die
Bahn hielt, bis die Menschen eingestiegen waren, um dann wieder abzufahren. Ich
sah Halten, Einsteigen und Abfahren, immer und immer wieder.
Ja, es war meine Schuld gewesen. Vor mich hätte ich mein
Kind stellen sollen, es zu halten, es mit meinem Leib zu schützen, und ihm
nicht bloß die Hand reichen. Dann wären wir nicht getrennt worden, wären wir
noch zusammen. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass es so einfach wäre uns
zu trennen. Ich stand vor der Bahn, sah Menschen einsteigen, immer wieder
Menschen einsteigen, wurde geschubst, doch ich spürte nichts mehr, nichts mehr
außer dem Schmerz mein Kind verloren zu haben, nichts mehr als das schreckliche
Gefühl Schuld daran zu tragen.
Wer könnte je diese Last von meinen Schulter nehmen? Wo
könnte ich je Vergebung finden?
Und plötzlich war die Menge verschwunden. Weit und kahl lag
die riesige Halle vor mir. Alle waren sie mit der Bahn hinaufgefahren auf den
Berg, nur ich war dageblieben, allein, sonst wäre ich jetzt auch oben auf dem
Berg, mit all den anderen, doch vor allem mit Dir, mein Kind, wenn nicht das
Schrecklichste passiert wäre ... Doch was war das? Dort am Ende der Halle,
dicht an die Wand gedrängt, da lag doch etwas. Ich rannte hinüber. Es war mein
Kind, das da zusammengekauert lag. Aber warum lag es so da? Es war zertrampelt
worden, von all den Menschen, einfach zertrampelt. Ich nahm es in den Arm. Es
schlief nur. Friedlich und fest schlief es.
„Ich werde Dich nie mehr loslassen, nie mehr. Ich werde Dich
halten, Dich und Deine Hand, bis Du sie mir entziehst, doch in meinem Herzen,
in meinen Gedanken werde ich Dich immer halten.“, dachte ich, als ich mein
schlafendes Kind nach Hause trug.
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