0203 Die Reise (1. Teil)


Die Reise (1. Teil)


Es war eine wunderschöne, klare Vollmondnacht, diese Nacht, als ich sie entdeckte, an den Stamm der Weide gelehnt, ganz klein, ganz versteckt, ganz in sich gekehrt. Eine beunruhigende Ruhe ging von ihr aus, und da selbst die Weide nicht sprach, da der Wind noch schlief, setzte ich mich ganz einfach zu ihr, neben sie, ohne die Distanz aufzuhalten, ohne sie zu forcieren.

„Ich bin hier, weil ich Dir meine Geschichte erzählen will, und ich habe gehört, hier ist der Ort um seine Geschichte zu erzählen, hier, in Deiner Welt, in der nichts verloren geht, und die mit und aus dem Erzählen lebt, Dir meine Geschichte zu erzählen,  die Dich erweitern könnte und Dich wachsen lässt.“, sagte sie ohne Umschweife.
„Hier ist der Ort, jetzt ist die Zeit, und ich bin da. Erzähle – ich höre.“, forderte ich sie auf.

„Der, dem ich mit meinem ganzen Herzen, meiner ganzen Seele und meinem ganzen Sein verbunden bin, sagte eines Tages zu mir:

‚Wir wollen uns auf den Weg machen, wollen unsere Boote verbinden, so wie wir einander verbunden sind und uns hinausführen lassen auf das weite Meer, uns dem Wind und den Wellen anvertrauen, so wie wir uns uns anvertrauen. Wohin sie uns auch tragen und treiben, dort soll unser Platz und unserer Bestimmung sein, so wie wir uns bestimmt sind.’

Es war eine wunderbare Idee unser Gemeinsam zu leben und zu entfalten. So verbanden wir unsere Boote, so dass sie wie eins aussahen, so kompakt und verschmolzen, als hätte sie sie einzeln niemals gegeben. Bei einer leichten Brise und sanftem Wellengang, legten wir ab. Dennoch waren wir bereits nach kürzester Zeit weit draußen auf dem Meer, hatten das Ufer weit hinter uns gelassen, und weit und breit war kein anderes zu sehen. Nach kürzester Zeit? Nun, ich kann es nicht sicher sagen, denn es war eine beglückende, erfüllte Zeit, die sich nicht in Maße passen läßt, und sich jeder Einengung widersetzt. Vielleicht waren es nur wenige Minuten. Genauso gut könnten es auch Jahre gewesen sein. Es war auch völlig einerlei, denn die Zeit sagt nur etwas über das Ausmaß des Unglücks und nichts über das Glück aus. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, aber dem Unglücklichen gräbt sich jede einzelne Minute schmerzlich ein, und wir waren auf der Seite der Glücklichen, von keiner weiteren Absicht beseelt als uns zu sein, und selbst das ist zu viel gesagt, denn wir waren nicht einmal absichtsvoll, nur gewiss, bis jene Nacht hereinbrach, die alles ändern sollte.

Von einem auf den anderen Moment war der Himmel voller schwarzer Gewitterwolken. Wir hatten es nicht geahnt und nicht kommen sehen. Plötzlich regnete es in Strömen und helle Blitze durchzuckten die Nacht, während ein schwerer Sturmwind die Wellen aufpeitschte und an der Verbindung unserer Boote riss und zerrte.

Wie stark war sie wirklich? Wie viel würde sie aushalten, diese, unsere Verbindung? Wie lange würde sie den auf sie wirkenden Kräften zu trotzen vermögen?

Ängstlich und kleinlaut hielten wir uns an den Händen, während wir mitansehen mussten, wie sich die Verbindung immer mehr lockerte, wie sie schließlich brach und uns letztendlich auch unsere Hände entglitten, wie unsere Boote immer mehr voneinander drifteten, ohne Möglichkeit es aufzuhalten, bis wir uns aus den Augen verloren, und nun jeder für sich kämpfen musste, durch Sturm, Nacht und Regen.“ So erzählte sie mir. Und ich sah es vor mir, die Verlorenheit und die Ohnmacht, den Schmerz und die Demütigung, doch war die Geschichte wirklich hier zu Ende? 

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