0603 Die Reise (2. Teil)


Die Reise (2. Teil)


Der Vollmond blieb ungerührt, nur der Wind ließ die Äste der Weide noch immer schweigen, als sie fortfuhr:

„Ich rief seinen Namen, doch meine Worte zerbrachen am Tosen des  Windes, wurden verschluckt im Tosen des Sturms, wurden weggespült vom Regen. Ich rief seinen Namen, trotz allem, weil ich nicht aufgeben wollte, nicht aufgeben konnte. Und die Nacht brach herein. Allmählich hörte alles auf, der Regen und der Sturm. Plötzlich war alles still um mich. Nochmals versuchte ich es ihn zu rufen, und sein Name scholl weithin übers Meer, doch ich bekam keine Antwort. Eine beinahe gespenstische Stille umgab mich, die umso drückender war nachdem gerade eben noch der Sturm gebrüllt hatte. War das bereits die Todesstille? Sollte er in den tosenden Wellen sein nasses Grab gefunden haben? Wenn es so wäre, so wollte ich ihm nach, da es denn der einzige Weg gewesen wäre doch noch mit ihm vereint zu sein. Aber ich wusste es nicht. Was wenn es ihm genauso erginge? Wenn die Nacht vorbei wäre, dann würde ich sein Boot sehen und wir würden sie wieder verbinden. Alles wäre wieder so wie früher, als ob nichts passiert wäre. Wir würden wieder verbunden und glücklich miteinander sein. Irgendwann muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich in irgendeiner Weise Erschöpfung gespürt hätte, nur, dass ich eingeschlafen war, das stand fest, denn ich erwachte. Automatisch griff meine Hand hinüber zu Dir, hinüber zu Deinem Boot, doch sie griff ins Leere. Vielleicht hatte ich auch gedacht, hatte mir einzureden versucht, das, was da geschehen war, war bloß ein schrecklicher Albtraum gewesen, doch es war wahr, war wirklich geschehen. Die Sonne stand bereits am Himmel und der Himmel war strahlend blau, stumpfsinnig und trostlos. Ich wusste, ich musste auf mich achten um nicht auch diesem Stumpfsinn und dieser Trostlosigkeit zu verfallen, mich nicht hineinziehen zu lassen. Doch woher sollte ich Sinn nehmen? Woraus sollte ich Trost schöpfen? Mein Boot trieb dahin, einfach dahin, und ich ließ es. Ich könnte auch nicht mehr sagen wie lange ich so dahintrieb, mich dahintreiben ließ, bevor ich ein Ufer erreichte, irgendeines, irgendwo. Hier, dachte ich mir, hier wird wohl meine Reise zu Ende sein. Ich begann mich einzurichten, in diesem Hier, denn wenn ich irgendwo bliebe, so würde er mich leichter finden. Dann wieder machte ich mich auf den Weg, weil ich die Vermutung hatte, dass er den gleichen Gedanken gehabt haben könnte und irgendwo darauf wartete von mir gefunden zu werden. Letztendlich kehrte ich wieder zu diesem Hier zurück. Doch ganz gleich was ich mache, ob ich finden will oder gefunden werden will, ich habe keinen Hinweis, nicht den kleinsten gefunden wo er sich aufhält.“

An dieser Stelle hielt sie inne, in ihrer Erzählung. Wohl weil sie im Gegenwärtigen angekommen war. Und der Wind ließ die Äste immer noch schweigen, als würde er gespannt lauschen.

„Wenn es der ist, den Deine Seele und dessen Seele Dich sucht, so kannst Du bleiben oder gehen, ihr werdet euch finden, unausweichlich. Geh Deinen Weg, ganz gleich wo er Dich hinführt. Wenn es sein soll, dann werden sich eure Wege wieder kreuzen. Du kannst es weder beschleunigen noch verhindern – wenn es sein soll, dann wird es sein. Du hast keinen Einfluss darauf, außer das Eine: Halte die Augen offen und Dein Herz weit, damit Du es nicht übersiehst, dann wenn es sein soll, wenn es sein soll.“, sagte ich ihr.

„Das ist alles? Mehr kannst Du mir nicht sagen?“, fragte sie, offenbar enttäuscht.
„Ich kann Dir nicht mehr geben als Hoffnung, und ich habe auch nie mehr in Aussicht gestellt.“, antwortete ich.

Sie ging zurück in ihre Welt. Es war ihr wohl zu wenig.

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