Unter dem Kreuz - Maria von Magdala (Teil 5)
Du hattest Dich wohl oft gefragt, was es war, diese
Unausweichlichkeit, von der Er sprach, damals, als Er Dich annahm, als Er Dich
annahm, zu sich emporhob und mitnahm, um den Weg, den Er gehen hatte, mit Dir
zu gehen, doch Du hattest es nicht gewagt Ihn zu fragen. Allzu sehr fürchtetest
Du Seine Antwort. Doch hattest Du es nicht schon immer gewusst oder zumindest
geahnt? Hast Du nicht gewaltsam die Augen geschlossen, so lange es möglich war?
Es war nicht mehr möglich, wegzusehen. Mit Peitschen hatten
sie Ihn gezüchtigt und mit Dornen gekrönt. Mit Nägeln hatten sie Seine Hände,
Seine Füße durchstoßen um Ihn ans Kreuz zu nageln und mit der Lanze Seine Seite
durchbohrt. Jeder Peitschenhieb, der Ihn traf, traf Dich. Jeder Dorn, der Seine
Haut aufriss, riss Deine auf. Jeder Nagel, der Sein Fleisch durchstieß,
durchstieß das Deine. Die Lanze, die Seine Seite durchbohrte, durchdrang Dich,
fuhr Dir mitten ins Herz. Sein Schmerz war der Deine, ohne Unterschied, ohne
Grenzziehung. Er hatte Dich in sich und in Seine Liebe geholt, und Du gingst
restlos darin auf.
Er hatte Dich geküßt, und Du wehrtest es nicht.
Jetzt war Dein Platz hier, hier unter dem Kreuz, bei Ihm.
„Bis zur Unausweichlichkeit, und noch weit darüber hinaus.“, hast Du gesagt.
Das war es wohl gewesen, was Er gemeint hatte mit der Unausweichlichkeit, und
Du bliebst. Du lagst, im Staub zu Seinen Füßen, und Du bliebst. Auch wenn es
Dir das Herz zerriss, wenn es Dir vorkam, als würde der wichtigste und
kostbarste Teil aus Dir herausgerissen, wenn es Dir erschien, als würde alle
Lebenskraft schwinden, Du bliebst.
„Bis zur Unausweichlichkeit, und weit darüber hinaus.“,
hattest Du gesagt, und Dich darin Ihm zugesagt. Doch Er, Er hatte die Zusage
des weit darüber hinaus angenommen. Also musste es dieses geben. Er hätte Dir
keine Hoffnung gemacht, wenn es keine gegeben hätte. Doch wo konnte es hier
noch eine Hoffnung geben? Wo konnte es hier noch ein weit darüber hinaus geben?
Um Dich war Nacht, doch nicht einfach nur Nacht. Es war die
Dunkelheit der Endgültigkeit – 1000 und eine Nacht Dunkelheit. Nie wieder
könnte ein Morgen werden. Nie wieder könnte je etwas so sein wie es war.
Um Dich herrschte Lärm und Betriebsamkeit, doch Du hörtest
es nicht, denn in Dir war Stille, die Stille der Verlassenheit, der
Unausweichlichkeit des Todes. 1000 und einen Tod starbst Du in dieser Nacht.
Nie wieder würde es ein Leben geben können. Nie wieder könntest Du je so leben
wie zuvor.
Doch mitten in diese Zerrissenheit, stahl sich Sein Blick,
ein letztes Mal.
„Geh mit mir.“, wollte Er Dir sagen.
„Wohin soll ich mit Dir gehen?“, fragtest Du.
„Den Weg, den ich Dir weisen werde, den ich Dir vorangehe.“,
antwortete Sein Blick.
„Ich will es.“, hörtest Du noch Deine tonlose Stimme.
Hinabgestiegen in die tiefste aller Verlassenheiten, ließ Er
Dich dennoch nicht verzweifeln. Getroffen vom Inbegriff des Todes, hatte Er
Dich nicht untergehen lassen.
„Und weit darüber hinaus.“, sagtest Du, bevor Dich eine
gnädige Ohnmacht umfing.
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