Die Mutter
„Setz Dich zu mir und erzähl mir Deine Geschichte.“, bat ich
Dich, in jener Nacht, als Du Dich zu mir setztest, zu verweilen, ein wenig. Und
Du erzähltest mir Deine Geschichte:
„Meine Mutter war eine wunderschöne Frau, aber es war jene
Art von Schönheit, die sich nicht aufdrängt, sondern in ihrer Schlichtheit gern
übersehen wird. Doch sie war nicht nur schön, sondern auch weise. Nicht im
Sinne von gebildet oder belesen, sondern sie hatte die Gabe sich in jeden
hineinversetzen zu können, aber ohne das Umfeld aus dem Blick zu verlieren, so
dass sie jedem richtig zu raten wusste, egal welches Problem es zu lösen galt
oder welche Sorge plagte. Für die Leidenden und die Trauernden fand sie immer
die richtigen Worte des Trostes. Diese Gabe konnte nicht lange geheim bleiben,
so dass immer mehr zu ihr kamen ihren Rat oder ihren Trost zu erbitten – und
sie wies niemanden ab, lies niemanden ungetröstet ziehen. Man sollte meinen,
diese Menschen kämen nur ein einziges Mal und dann nie wieder, doch das
Gegenteil war der Fall. Sie kamen immer und immer wieder und gewöhnten sich
nach und nach daran sich bei ihr Rat zu holen, ja, sie gewöhnten sich so sehr
daran, dass sie gar nicht mehr versuchten sich selbst zu helfen, sondern
automatisch zu meiner Mutter kamen. Es dauerte wohl einige Zeit bis meine
Mutter begriff, dass die Menschen immer abhängiger von ihr wurden. Ja, bei
manchen war es so schlimm, dass sie nicht einmal mehr entscheiden konnten
welche Schuhe sie anziehen sollten. Und meine Mutter wusste natürlich, dass das
nicht gut war, für sie nicht, aber noch weniger für die Menschen, die sich von
ihr helfen ließen, denn sie hörten auf ihrem eigenen Urteil zu vertrauen,
hörten auf sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Sie hätte die Macht
gehabt diese Menschen wie Marionetten zu benutzen, hätte sie es denn gewollt.
Dabei war ihr einziges Ziel gewesen, diesen Menschen einen Anstoß zu geben,
bloß einen kleinen Anstoß, woraufhin sie sich wieder selbst weiterhelfen
sollten. Doch es hatte sich in die falsche Richtung entwickelt. So beschloss sie
keine Ratschläge mehr zu geben und schickte die Menschen, die nach wie vor in
Scharen zu ihr strömten, fort. Natürlich tat sie es nicht ohne Erklärung, doch
niemand wollte sie verstehen. Das einzige, was sie aus den Worten meiner Mutter
mitnahmen war, dass sie als Hilfesuchende abgewiesen wurden, dass sie nun
wieder ganz allein mit ihren Problemen und Sorgen waren. So geschah es, dass
die Zuneigung sich in Wut und Ablehnung wandelten, wie es wohl des öfteren
geschieht. Nur einer blieb, und ließ sich auch nicht abweisen. 70 Tage und 70
Nächte saß er im Garten vor dem Haus meiner Mutter, bis er schließlich ihr Herz
so sehr rührte, dass sie ihn aufnahm und heiratete, doch Rat hat sie keinem
mehr erteilt.“
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