1705 Eos & Io (Teil 1)


Wie Sonne und Mond


„Ich will Dir eine Geschichte erzählen“, sagte ich
„Erzähl, ich möchte sie hören“, entgegnetest Du, bloß.

„Es waren einmal zwei Mädchen, gerade in dem Alter, in dem sie begannen die Welt zu erobern, abgenabelt und frei, und die Freiheit schmeckte wie wilder Honig, begehrenswert und doch auch ein wenig bitter. Zu viel für eine alleine, so taten sie sich zusammen, die beiden, obwohl sie so verschieden waren wie zwei Menschen es nur sein konnten, waren wie Tag und Nacht, wie Sonne und Mond, wie Sommer und Winter, wie Licht und Schatten, völlig konträr, und doch sich ergänzend wie zweit Teile eines Ganzen. Ich nenne sie Eos, nach der Göttin der Morgenröte und Io, nach der Göttin des Mondes. Eos war voller Leben. In all ihren Bewegungen, selbst in den banalsten, schien sie zu tanzen, anmutig und grazil. Ihr Körper vibrierte regelrecht, selbst wenn sie saß oder lag. Immer in Bewegung, voller Neugierde und Heiterkeit, aber auch in gespannter Unruhe und Rastlosigkeit. Sie konnte nicht stillhalten, nicht bleiben. Io hingegen war ruhig und besonnen. Alles, was sie tat war wohldurchdacht und bestimmg, und wenn sie etwas anfing, dann wohl erst nach reiflicher Überlegung, aber dann gründlich und unbeirrt, bis zuletzt. Sie strahlte Ruhe und Besonnenheit aus, die manchmal zur Trägheit wurde.

Io saß am Bett, an jenem Sommernachmittag und sah Eos zu wie sie vor ihr drehte in ihrem luftigen Sommerkleid.
‚Was ist es nur, was Dich bei mir hält?’, fragte Io, wohl nicht zum ersten Mal, ‚Da gibt es so viele, die unbeschwerter sind als ich, die mit Dir lachen würden, ungezwungen und schwerelos. Die würden Dir gut tun.’
Trotzdem Eos solche Reden gewohnt war, flog sie gleichsam zu Io, nahm ihre Hände: ‚Ja, vielleicht ist es so, aber Dich zum Lachen zu bringen, das ist die eigentlichste Herausforderung und für mich das schönste Kompliment, wenn Du Dich von meiner Unbeschwertheit anstecken läßt, nur für einen Moment.’
‚Ja, das schaffst Du, zweifellos, und es sind wunderschöne Momente.’, gab Io zu, ‚Aber was habe ich Dir zu bieten?’
‚Ich schaffe es ruhig zu halten, zumindest für kurze Zeit, wenn ich bei Dir bin. Du bringst mich dazu meine Ruhelosigkeit abzulegen und zu bleiben. Das hat noch niemand vor Dir geschafft, so wie der Mond die Welt zur Ruhe bringt, so Du mich.’, sagte Eos.
‚Und Du, Du tauchst mir die Welt in Licht und Farbe, so wie die Sonne die Welt wärmt, so wärmst Du mich und läßt mich mich spüren. Manches, was mir zuvor unendlich schwer schien, ja gänzlich undurchführbar, wird leicht und machbar. Du zeigst mir, dass es immer einen Weg gibt, wenn man nur nicht aufgibt’, sagte Io.
‚Und Du, Du leitest mich an genauer hinzusehen, bedächtiger zu sein, nicht zu schnell zu urteilen, nicht zu schnell zu verstehen.’, sagte nun Eos.

Ja, so waren sie, Eos und Io, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Licht und Schatten, einander entgegengesetzt, einander ergänzend. Man könnte sagen, der Strom des Lebens hatte sie zufällig zusammengetrieben, und sie hatten die Chance ergriffen und ihre Boote vertäut, so dass sie nun miteinander über die Wellen schaukelten.

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