1805 Eos & Io (Teil 2)


Wir fahren bis zur Sonne


„Io hatte zu tun. Vertieft in ihre Arbeit, nahm sie nichts wahr, während Eos die Wohnung mit Leben und Bewegung erfüllt. Sie hatte eine ganz eigene Weise ihre Sachen zu erledigen. Ständig gab sie einem das Gefühl, dass sie bloß herumschwirrte, gleich einem anmutigen Schmetterling, bei dessen Anblick wohl kaum jemand auf die Idee käme ihn zu fragen, ob er seine Aufgaben bereits erledigt hätte, sondern man verliert sich in seinem Flug an sich. Ebenso erging es einem mit Eos, und dennoch, sie erledigte ihre Aufgaben, niemand wusste wie. Doch plötzlich hielt sie still, und diese Stille wirkte irritierend. Io sah von ihrer Arbeit auf.
‚Sieh nur, die Sonne!’, sagte Eos, die neben ihr stand und gebannt aus dem Fenster blickte.
‚Ich weiß, und weiter?’, entgegnete Io.
‚Siehst Du denn nicht, dass sie anders ist als sonst, ganz anders als sonst?’, fragte Eos.
‚Nein, für mich scheint sie wie immer.’, meinte Io lapidar, die beim besten Willen nicht verstand was los sein sollte.
‚Ach Du bist so blind!’, ereiferte sich nun Eos, ‚Es ist eine Einladung an uns, komm, wir fahren zur Sonne.’
Schon hatte sie Io an der Hand genommen, zog sie hinter sich her, hinaus aus der Wohnung und auf die Straße.
‚Komm, wir nehmen die Straßenbahn!’, rief Eos lachend, denn sie musste den Straßenlärm übertönen. Io wurde weitergezogen. Hätte es einen Sinn gemacht Eos zu erklären, dass man die Sonne nicht einholen konnte, selbst wenn man mit derselben Geschwindigkeit reiste? Sie hätte wohl bloß mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass sie die Sonne doch sähe, und was man sehen kann, kann man auch erreichen. Man kam nicht an, gegen ihre Begeisterung, die so mitreißend war, und Io wollte es auch gar nicht. Sie ließ sich stattdessen einfach anstecken und mitziehen. Bis zur Endhaltestelle fuhren sie, um dort auszusteigen und zu Fuß weiterzugehen.
‚Siehst Du, wir kommen immer näher!’, jauchzte Eos immer wieder, und es war wohl auch wirklich so, denn die Sonne schickte sich bereits an unterzugehen. Längst hatten sie die Stadtgrenze erreicht, aber sie gingen immer noch weiter, bis nur mehr ein schmaler Streifen von der Sonne am Horizont zu sehen war.
‚Wir haben es nicht geschafft.’, gab sogar Eos endlich zu, und ließ sich da, wo sie stand, ins Gras fallen. Io setzte sich neben ihre Freundin.
‚Sei nicht traurig.’, versuchte Io Eos aufzumuntern, doch auch wenn man nun annehmen könnte, dass Eos enttäuscht gewesen wäre, so lernt man zum wiederholten Male, man kann nichts annehmen, denn sie war ganz und gar nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil, immer noch voller Eifer und Tatendrang.
‚Sie hat mir ihre Einladung einfach zu spät zukommen lassen, die Sonne. Das nächste Mal werden wir sie erreichen, und dann, dann steigen wir am Regenbogen hinauf, und rutschen auf der anderen Seite wieder hinunter, und dort, dort bleiben wir dann, Du und ich, für immer, am anderen Ende des Regenbogens.’, sagte Eos leichthin.
‚Eine wunderschöne Vorstellung.’, sagte Io leise, nur, dass sie nicht einlösbar war, weder das Ende des Regenbogens zu erreichen, noch das Für Immer, aber auch das behielt sie für sich.“

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