(3) Die Mutter
Lange wog sie den Stein in der Hand, besah ihn sich von
allen Seiten, ließ ihn wirken und wirkte entgegen. Ich ließ es zu, unterbrach
nicht und forderte nicht. Ein gewichtiges, übermächtiges Wort, das da auf
diesem Stein stand, „Mutter“. Jeder hat eine Mutter, und jeder ist ihr in
irgendeiner Weise verbunden, doch manche tragen sie und andere werden von ihr
getragen. Wenige Worte gibt es wohl, die derart vorbelastet sind. Die
Bandbreite ist allumfassend, angefangen bei Mutter Erde, die uns alle aufnimmt
und nährt, über die große Göttin, die uns behütet und bewacht, bis hin zur
eigenen Mutter. Stark und groß müssen Mütter sein, wollen sie diesen Titel
verdienen, doch auch nicht zu groß, nicht zu stark, dass sie ihre Kinder
erdrückte.
Ihr Blick wanderte in die Ferne, in die Leere, wanderte in
eine Unbestimmtheit, weg von diesem Ort, fort aus dieser Zeit. „Warum bist Du
nur immer so traurig, Mama? Warum bist Du so verbittert?“, tauchte ihre Stimme
plötzlich auf, aus einem tiefen Irgendwo, „Du kümmerst Dich um alles, versorgst
mich mit dem Notwendigen, Essen und Kleidung, doch gelacht hast Du noch nie, so
lange ich denken kann hast Du noch nie gelacht. Ja, es stimmt schon, ich kann
mich nicht beschweren. Bitte, glaub ja nicht, dass ich mich beschweren möchte,
bitte, bitte nicht. Ja, ich weiß schon, es geht mir gut, und ich habe alles was
ich brauche, bloß zugewendet hast Du Dich mir noch nie, dafür umso öfter
abgewendet. Es liegt wohl an mir, dass es so ist. Ganz bestimmt sogar liegt die
Schuld bei mir. Ich bin wohl nicht so geraten wie Du Dir das vorgestellt hast.
Und deshalb bist Du enttäuscht, enttäuscht von mir, enttäuscht vom Leben und
dem, was es Dir aufgebürdet hat. Doch bin ich wirklich diejenige, die für Dein
Leid verantwortlich ist? Ich habe alles versucht zu entsprechen ohne mich
darüber gänzlich zu verleugnen. Ich bin nicht so wie Du mich gerne hättest,
aber sollte es nicht genau umgekehrt sein, sollte es denn nicht so sein, dass
Du mich so nehmen solltest wie ich bin, unvoreingenommen und offen, wenn Du mich
liebest, wie Du sagst. Allzu lange habe ich gebettelt um Deine Zuneigung, die
doch mir gelten sollte, und nicht der, die ich sein sollte, für Dich sein
sollte und vor der Welt, um damit den ganzen anderen Pfusch in Deinem Leben
auszugleichen. Doch ganz gleich wie sehr ich mich verrenkte, niemals habe ich
es geschafft. Deinen strengen Standards zu entsprechen. Aber selbst wenn ich es
geschafft hätte, so hätte es doch nichts geändert an Deinem Leid, Deiner Trauer
und Deinem Unglück. Nur ließ ich es mir aufladen. Alle Deine Steine hast Du in
meinen Korb gelegt, und heute, heute gebe ich sie Dir zurück. Ich kann nicht
für Dein Leben Verantwortung übernehmen. Ich bin nicht verantwortlich für Dein
Glück. Das bist Du alleine, Du, nur Du, und sonst niemand. Warum nur hast Du
mir das angetan? Wie konntest Du nur?“, brach es aus mir heraus, und ich sah
wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, während sie all die Steine, die die
Aufschrift „Mutter“ trugen aus dem Korb suchte und nach und nach, einen um den
anderen, im See versenkte.
Sehen und gesehen werden,
teilen und mitteilen,
hören und angehört werden,
greifen und ergriffen werden,
hüten und behütet werden,
kennen und erkannt werden,
nehmen und wahrgenommen werden,
das ist die Wahrheit der Beziehung!
So hatte sie den ersten Schritt getan in Richtung
Entlastung. Da griff sie bereits zum nächsten Stein mit der Aufschrift
„Gesellschaft“.
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