Der alte Baum (2)
„Ja, meine Großmutter und mein Großvater, und wieder war es
ein Abschied – der nächste Krieg, die nächste Einberufung. Kurz zuvor erst
hatten sie geheiratet, entgegen allem Widerstand, denn schließlich hätten sie
ja bis nach dem Krieg warten können. Wollte sie denn unbedingt eine Soldatenwitwe
werden, hatte sie sich fragen lassen müssen. Doch die junge Liebe hat keinen
Sinn für den Tod. Vielleicht war es ihnen auch darum gegangen gerade in dieser
unseligen Zeit zu heiraten, ein Zeichen zu setzen, dass selbst inmitten der
größten Zerstörung noch ein Anfang möglich ist. Und dann war er tatsächlich
gekommen, der Einberufungsbefehl. Während sie Abschied nahmen, da unter der
Linde, trug sie bereits sein Kind unter ihrem Herzen. Viele Jahre sollte sie
alleine sein, während er im Feld war und in Gefangenschaft geriet. Viele Jahre,
in denen sie keine Nachricht von ihm erhielt. Doch jedes Mal, wenn die Last zu
schwer, zu drückend wurde, nahm sie ihre Tochter an der Hand und nahm sie mit
hierher, an diesen Platz unter der Linde, wo sie dereinst Abschied nehmen
musste. Hier konnte sie ihrer Tochter von ihrem Vater erzählen, und es geschah
an einem jener schweren Tage, als sie wieder einmal unter der Linde saßen, als
ein ausgemergelter Mann in einem zerschlissenem Anzug auf sie zukam. Furcht
überfiel das kleine Mädchen, doch die Mutter schien es nicht zu bemerken. Sie
hatte nur Augen für diesen Mann. Und so wie sich vor Jahren unter der Linde
verabschiedet hatten, so fanden sie an diesem Ort wieder zueinander. Viele
Jahre später saß abermals eine junge Frau unter diesem Baum. Auch sie wartete
auf ihren Liebsten. Kein Einberufungsbefehl und kein Krieg störte ihre Idylle.
Ihre Liebe blieb ungestört, doch es war die große Zeit des Aufbruchs, in der
alles möglich schien, so lange frau nur hart genug arbeitete, und obwohl es
keinen Krieg, keine Zerstörung mehr gab, dies sie zu trennen vermochte, so
waren sie es selbst, die es vermochten sich voneinander fernzuhalten. Und so
war es auch nicht die Mutter, sondern die Großmutter, die mich an der Hand nahm
und an jenen zauberhaften Ort führte. Sie war es auch, die mir all die
Geschichten erzählte, all diese Begebenheiten, deren Gemeinsamkeit die alte
Linde war, gleich einem Knoten, in dem alle Fäden verbunden waren, meine
Großmutter, bei der ich die meiste Zeit verwahrt wurde. So erlebte ich das
Erblühen, die sommerliche Pracht, das langsame Welken und die Winterruhe der
Linde, viele, viele Jahre hindurch. Und eines Tages traf auch ich mit meinem
Liebsten hier, unter der Linde. So lange ich denken kann schenkte sie mir Trost
und Zuversicht, Heiterkeit und Freude, und jetzt, da meine Tochter so weit wäre
fortzusetzen, jetzt haben sie sie gemordet, achtlos hingemordet um des schnöden
Kommerzes willen“, erzählte sie, und ich verstand ihre Trauer.
„Aber vielleicht war es auch ein Zeichen einen neuen Ort zu
finden, für Deine Tochter, ein Zeichen, dass Du lernen solltest loszulassen.
Deine Geschichte ist nicht die ihre, so wie Dein Leben nicht das ihre ist“,
versuchte ich eine Erklärung, während sich ihr Blick wieder in den Ästen der
Weide verlor.
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