„Kino war am schönsten ...“[1]
Es war Sonntag im Jahre 1938. Das Fräulein, das durch
Emsigkeit und Umsicht das Wohlwollen der ansässigen Hausfrauen als Verkäuferin
im hiesigen Gemischtwarenhandel zu erwerben suchte, war auf dem Weg ins Kino.
Jeden Sonntag verließ sie kurz vor 15.00 Uhr das Haus um ins Kino zu gehen.
Adrett, mit ihrem Sonntagskleid und duftenden Strümpfen angetan, nahm sie den
erprobten Weg, sittsam unauffällig, mit gesenktem Blick. „Was für ein braves
Fräulein, das Fräulein aus dem Gemischtwarenhandel“, pflegten die Damen des
Ortes zu bemerken, denn mehr noch als durch ihre Emsigkeit und Umsicht im
Geschäft, hatte sie sich das Wohlwollen eben jener Damen durch ihre Tugendhaftigkeit erworben.
„Sie ist keine von denen, die den jungen Burschen durch forsche und kokette
Blicke Avancen machen, wie es sich für junges, unverheiratetes Mädchen durchaus
nicht schickte. Immer ist sie im Geschäft, rührig und fleißig. Nur am Sonntag
geht sie aus und da auch bloß ins Kino und gleich nach der Vorstellung wieder
nach Hause“, zeigten sich die ehrbaren Damen erfreut. Sie hätten wohl nicht
derart wohlwollend von dem Fräulein aus dem Gemischtwarenladen gesprochen, wenn
sie ihr Geheimnis gekannt hätten.
Gegenüber dem Kono war ein kleiner Veranstaltungssaal, in
dem jeden Sonntag, just zu der Zeit, zu der das Fräulein ins Kino ging,
Tanzveranstaltungen für die jungen Leute abgehalten wurden, die von den jungen
Arbeiterinnen der nahegelegenen Fabrik besucht wurde. „Das sozialistische,
unmoralische Gesindel“, nannten sie die ehrbaren Damen des Ortes die
Besucherinnen eben jener Veranstaltungen, deren Sittenlosigkeit für eben jene
Damen außer Zweifel stand.
Eines Sonntags also schlenderte ein junger Mann die Straße
hinauf, kess die Kappe in die Stirn gezogen. Er war wohl neu im Ort, denn er
ging auf der falschen Seite der Straße. Beinahe wäre das Fräulein mit ihm
zusammengestoßen, hätte sie nicht in letzter Sekunde, gegen ihre Gewohnheit,
den Blick gehoben und in seinen fallen lassen. Wache, freche, braune Augen
lächelten sie scheinbar an. Nein, sie wusste nicht wie lange sie derart
verharrte, auf jeden Fall länger als schicklich. War sie davor einfach nur
gerne ins Kino gegangen, so wurde es jetzt zu ihrem einzigen Lebensinhalt, und
noch nicht einmal das Kino selbst, sondern nur der Gang zum selben, denn an
jedem Sonntag fortan kreuzten sich ihre Wege. Für sie hätte dieser Zustand wohl
ewig so anhalten können. Eines Sonntags jedoch folgte er ihr ins Kino, was er
bisher noch nie getan hatte, nahm sie zur Seite, dort wo sie niemand sehen
konnte. „Ich wollte nicht gehen ohne mich zu verabschieden“, sagte er kurz, und
während der nächsten Minuten ihres ersten und letzten Zusammenseins, sagte er
kein weiteres Wort. Schweigend strich sie ihr adrettes Sonntagskleid glatt und
richtet ihre duftenden Strümpfe. Dennoch, jeden Sonntag ging sie ins Kino, und
jedes Mal traf sie ihn, der doch schon so lange fort war. Jeden Sonntag ging
sie ins Kino, Jahr um Jahr, und selbst dann noch, als das Kino schon längst
geschlossen war, ging sie hin und setzte sich in den nunmehr stellgelegten
Kinosaal. „Fräulein, warum gehen Sie immer noch in unser altes Kino? Es ist
doch schon längst geschlossen“, wurde sie ab und an gefragt. „Kino war am
schönsten“, sagte sie bloß, und meinte eigentlich seine waren, frechen, braunen
Augen.
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