1807 Gebrochene Flügel


Gebrochene Flügel


Ich saß auf meinem Steg, wie immer, auf meinem Steg, als ein seltsames Himmelsschauspiel meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es mutete an wie ein weißer Vogel, doch es musste riesengroß sein, denn obzwar noch weit entfernt von mir, konnte ich bereits seine weißen, weiten Schwingen gegen den nächtlichen Himmel ausnehmen. Elegant ließ es sich vom Wind tragen, als es unversehens ins Trudeln geriet, und letztlich abstürzte. Sofort sprang ich auf, zu sehen was wohl passiert war, zu sehen ob ich vielleicht helfen konnte. Ich musste wohl schon einige Zeit gegangen sein, als ich es endlich fand, und dieses Es war eine große Frau, mit langen, blonden Haaren, die sich erschöpft unter einem Baum niedergelassen hatte. Ihr schlanker Körper war in ein langes, weißes Kleid gehüllt, und neben ihr lagen, zerzaust und zerborsten, ihre weiten Schwingen. Zumindest konnte ich annehmen, dass sie es dereinst waren, denn dies hatte der Absturz übel mitgenommen. Offenbar hatten sie dessen Wucht abgebremst, denn das Mädchen schien unverletzt. Sie saß nur da, die Knie an die Brust gezogen und das Gesicht darauf gelegt, reglos.

„Ich habe Deinen Absturz gesehen. Hast Du Dich verletzt?“, fragte ich unvermittelt. Langsam hob sie den Kopf und sie wirkte, als würde sie aus weiter Ferne wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren.
„Nein, ich denke nicht“, sagte sie leise und langsam. Da ich nun ihre Augen sehen konnte, erkannte ich, dass sie weinte, stille, ruhige Tränen weinte, die aus ihren Augen über ihr Gesicht flossen, einfach so. Sie schien nichts dazu zu tun, aber auch nichts darwieder.
„Was ist mit Dir? Kann ich Dir vielleicht helfen?“, fragte ich besorgt.
„Meine Flügel sind gebrochen. Lange, lange Zeit haben sie standgehalten, haben scheinbar alles ausgehalten, doch jetzt sind sie gebrochen, endgültig. Sie haben sie gebrochen, endgültig“, sagte sie ruhig, während ihre Tränen weiter flossen, als würden sie nicht zu ihr gehören, als würde etwas in ihr weinen und nicht sie selbst.
„Wer hat sie gebrochen? Wer sind sie?“, fragte sie weiter.
„Ich bin ein Engel, d.h. ich habe die Kraft zu heilen und zu stärken. Nicht die Wunden des Leibes, sondern die des Herzens und der Seele. Ich bin ein Wesen des Himmels und der Erde, beheimatet in beiden Sphären, und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, nirgends wirklich zu Hause“, erklärte sie mir, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Natürlich, ein Engel. Dass ich das nicht sofort gesehen habe“, entgegnete ich spitz.
„Es ist einerlei ob Du mir glaubst oder nicht, aber mit jeder Zurückweisung, mit jedem Schmerz, den ich erleben muss, bricht eine Feder. Zunächst wurden sie noch heil, doch irgendwann war es zu viel, und deshalb stürzte ich ab, hier bei Dir, und in dieser Nacht“, sagte sie leise, während ihre Tränen immer noch flossen.
„Aber es gibt doch neben all dem Schmerz und der Trauer auch Liebe, versuchte ich sie zu ermuntern.
„Das stimmt, und ich habe es gesehen, habe es erlebt. Nur, da ist dieser eine Schmerz, der größer ist als alle anderen, der Schmerz, dass die Menschen ihre Verbindung zum Leben abgeschnitten haben und das Materielle über das Lebendige stellen“, erklärte sie.

Wortlos fasste ich ihre Hand und nahm sie mit zu mir, in meine kleine Welt. Die Flügel ließen wir wo sie waren, denn in dieser Welt ohne Leben kann nicht einmal ein Engel mehr helfen.

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