3108 Leseprobe "Kinder weinen leise"


1. Der Keller

Zuerst war es nur ab und zu, wenn sie unachtsam gewesen waren und etwas fallen ließen. Dann packte er sie wortlos an den Schultern und brachte sie hinunter in den Keller. Wobei Keller für dieses kalte, modrige, fenster- und lichtlose Loch einen Euphemismus bedeutet, in das sie gesperrt wurden. Eng aneinander gekuschelt saßen sie da und warteten auf ihre Befreiung. wie lange sie warten mussten? Das hing  von der Laune dessen ab, der sie einsperrte. Seine Entscheidung sie einzusperren war ebenso willkürlich und undurchschaubar wie die sie wieder zu entlassen.

Zuerst war es nur ab und zu, aber nach und nach geschah es immer häufiger, wurde die Zeitspanne, die sie dort verbringen mussten, immer länger und die zwischen den einzelnen Aufenthalten,  immer kürzer. So vermochten sie nicht mehr zu sagen warum es geschah – und sie fragten nicht danach. Völlig willkürlich machte er von dieser Strafe Gebrauch, und die Kinder ließen es mit sich geschehen, nahmen es hin wie den Regen im Spätsommer und den Sonnenuntergang am Abend, nahmen es hin wie ein Naturgesetz, unabänderlich und unausweichlich. Fielen sie mit dem Rad um, so waren sie zu langsam gewesen. Sie stellten es wieder auf, besahen sich ihre Schrammen und fuhren weiter. Wurden sie in den Keller gesperrt, so suchten sie die beste Position zu finden die Zeit zu überdauern. So nahmen sie alles, was ihnen widerfuhr, mit apathischem Gleichmut hin, das Gute ebenso wie das Schlechte, wobei sie sich über ein Zuviel an Gutem in ihrem jungen Leben nicht beklagen konnten. Bei ihren ersten erzwungenen Besuchen in diesem Kellerloch erschraken sie noch, beim kleinsten Geräusch, doch mit der Zeit gewöhnten sie sich daran, an die vereinzelten Geräusche ebenso wie an die quälende Stille, an die undurchdringliche Finsternis ebenso wie an den faulig, modrigen Geruch. Rücken an Rücken saßen sie dort unten und suchten die Zeit bis zu ihrer Freilassung durch schlafen zu überbrücken, was auch zumeist gelang, da der, der sie in den Keller sperrte, die Angewohnheit hatte sie jede Nacht mehrmals zu wecken. „Bringt mir ein Bier!“ oder „Leert den Aschenbecher aus!“ oder „Lauft hinüber zum Automaten und holt mir Zigaretten!“, befahl er dann, und wenn sie seine Befehle ausgeführt hatten, sollten sie wieder schlafen gehen. So waren sie zumeist tagsüber dementsprechend müde. Der Aufenthalt im Keller diente folglich auch der Kompensation ihres Schlafdefizites. Warum er sie in den Keller sperrte, das verstanden sie allerdings nicht, denn er hätte sie ja nur in ihr Zimmer schicken müssen, wenn sie ihn störten. Nein, das konnten sie nicht nachvollziehen. Wie konnten sie auch? Es lag gar nicht daran, dass sie ihn störten indem er sie sah. Mehr noch, über ihre physische Gegenwart hinaus, störte ihn dass er darum wusste, dass sie da waren. Ja, allein das Wissen darüber, dass sich diese Kinder irgendwo in seinem Haus aufhielten, machte ihn wahnsinnig. Vielleicht hätte es ihn sogar noch gestört, wenn er bloß um ihre Existenz wusste, auch wenn sie ansonsten ganz weit weg gewesen wären. Aber zu solch weitreichenden Gedanken reichten seine mentalen Kapazitäten ohnehin nicht. Auch nicht dazu, dass er eigentlich die Möglichkeit gehabt hätte diese Kinder einfach aus dem Haus zu werfen. Sie waren da wie der Stuhl und die Couch und die Lampe. Und so wie er niemals etwas daran geändert hätte, dass dieser Stuhl und diese Couch und diese Lampe da waren, so war er nicht fähig daran zu denken, dass diese Kinder ihren Wohnort ändern könnten, so unerträglich sie ihm auch immer sein mochten. Ihr Hier-sein war wie ein Naturgesetz, unabänderlich und unhinterfragbar. Nur wenn sie da unten im Keller waren, war es ihm, als könnte er auf sie vergessen, für diese kurze Zeit, immerhin, denn da konnten sie sich nicht unvermittelt aus ihrem Zimmer schleichen, bloß um aufs Clo zu gehen oder aus irgendeinem anderen, fadenscheinigen Grund, den sie ihm so auftischten. Es machte ihn fast verrückt, wenn er wusste, dass sie da hinter einer Türe waren, wohlgemerkt, hinter einer unverschlossenen Türe. So sehr er auch versuchte es nicht zu tun, ständig dachte er, jetzt, jetzt geht sie auf, und sie steht da, mit ihren blauen Augen, die alles in sich aufsaugen, alles Gute und Schöne, alles Licht und alle Wärme. Oder er, mit all der Sanftheit und Verweichlichung in den ebenso blauen Augen. Er konnte den Gedanken nicht loswerden. Nur im Keller, das war ihm beinahe, als wären sie weg. Erst, wenn er etwas brauchte, dann erinnerte er sich wieder daran, dass sie da unten in dem Kellerloch saßen und ließ sie heraus.

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