Nenn es nicht ...
Ich liege am Steg. Gerade eben warst Du
noch da. Mein Haar ist wirr und meine Gedanken ruhig. So wie ich lag, als Du
gingst, so blieb ich, verharrte in der Bewegung und im Gedanken. Es macht
nichts, dass Du gingst. Nein, natürlich habe ich Dich gerne bei mir, aber ich
mag es auch, diese Zeit, da ich Deine Anwesenheit abklingen lassen kann, wie
die letzten Töne eines Musikstücks, die noch nachwirken, wenn die Melodie
längst fertig gespielt wurde. Gerade eben warst Du noch da, und meine Haut
riecht nach Dir. Ich nehme den Geruch wahr und auf, mit geschlossenen Augen, er
bleibt, ein wenig noch, nachdem Du gegangen bist. Ich nehme Deine Berührung
wahr, die noch immer wie ein leichter Hauch auf meiner Haut liegt und sie sanft
bedeckt, wie ein seidener Schal. Ich nehme Deine Worte an, in denen Du Dich mir
zusprachst, immer leiser werdend. Ich lasse Dein Bei-mir-Sein nachwirken, noch
eine Weile zu bleiben, das Schöne auszukosten, nicht nur das, Deines Da-Seins,
sondern auch das Deines Da-Gewesen-Seins. Mitnehmen in die Zeit danach, die
immer auch eine Zeit davor ist. Mitnehmen aus der Fülle des Lebens, in die Du
mich immer wieder ent- und verführst, verzaubert von einer Welt, die immer
gleich, doch eine andere ist, wenn Du da bist.
„Nur noch eine kleine Weile“, flüstere
ich.
„Bist Du nicht traurig, dass sie gegangen
ist“, raunt mir eine Stimme zu.
„Nein, ich bin nicht traurig, dass sie gegangen
ist. Ich freue mich, dass sie da war und immer noch in mir, an mir wirkt“,
entgegne ich.
„Hast Du denn keine Sehnsucht?“, fragt die
Stimme.
„Jetzt noch nicht. Später vielleicht oder
wahrscheinlich, oder das Dich an mir tragen, in mir tragen, bleibt“, entgegne
ich versonnen.
„Liebst Du sie?“, kommt eine verhaltene
Stimme.
„Nein, oder ja, oder ich weiß nicht. Ich
habe es noch nicht benannt, was sie in und an mir auslöst, wie sie in mein
Leben wirkt und mich verändert, mich verzaubert und entdeckt“, gebe ich zurück.
„Also liebst Du sie doch?“, fragt die
Stimme unbeirrt weiter.
„Nein, ich liebe sie nicht!“, sage ich
jetzt, fest und mit Nachdruck.
„Aber es hört sich doch ganz danach an“,
fährt diese unerträgliche Stimme fort.
„Das kann schon sein. Irgendwo muss man
doch alles einordnen, immer irgendwo in eine Schublade packen. Und Liebe, ja,
es könnte sein, dass es sich danach anhört, aber in seiner Einmaligkeit passt
es nicht unter einen so allgemeinen und weiten, letztendlich nichtssagenden
Begriff. Mach es mir nicht kaputt!“, gebe ich verärgert zurück.
„Was mache ich denn kaputt? Die Liebe ist
wunderschön!“, versucht die Stimme einzulenken.
„Die Liebe ist wunderschön – und welche?
Nach welcher Definition? Werden nicht auch Bestitzansprüche, seelische
Grausamkeiten unter dem Deckmantel der Liebe verübt? Nein, ich will es nicht
benennen, was zwischen uns wirkt und unser Leben verändert, was es bewirkt,
dass meine Tage heller und meine Nächter wärmer erscheinen, als sie es in
Wirklichkeit sind, was mich begleitet, in meinem Tun und meinem Lassen, was
mich hoffen, träumen und sehnen lässt. Ich will es nicht benennen, weil es
keinen Namen dafür gibt. Weil die Einmaligkeit des Du nicht subsumierbar ist.
Weil das Leben in seiner Lebendigkeit unaussprechlich ist. Nenn es nicht, lebe
es!“, erwidere ich, und die Stimme verstummt, weil sie nicht versteht oder weil
sie nicht mehr weiterweiß.
Unversehens sinke ich zurück, in Deine
Berührung, Deine Worte, Deinen Geruch, die mich noch immer umwehen, eine kleine
Weile noch.
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