1809 Veränderungen


Veränderungen


Jeden Abend dasselbe.
Jeden Abend der gleiche, gewohnte Ablauf.
Du nimmst aus dem Postkasten die Zeitung, sperrst die Türe auf, trittst ein und sperrst sie hinter Dir wieder zu. Du legst den Schlüssel auf das kleine Tischchen im Vorzimmer. Dann kramst Du in Deiner Hosentasche, ziehst den Autoschlüssel heraus und legst ihn daneben. Dann gehst Du ins Wohnzimmer. Auf dem Weg sagst Du „Hallo!“, und das sollte eigentlich mir gelten, denn eigentlich erwartest Du, dass ich in der Küche bin. Aber Du sagst es auch, wenn ich nicht in der Küche, sondern irgendwo bin. Du setzt es so felsenfest voraus, dass das „Hallo!“ dorthin gehört, ob es nun ankommt oder nicht. Ob Du es auch sagst, wenn ich gar nicht da bin? Fällt es Dir überhaupt auf ob ich da bin oder nicht? Unbeirrt gehst Du weiter ins Wohnzimmer und setzt Dich auf die Couch, in die rechte Ecke, dort, wo schon die Mulde erkennbar ist, weil Du immer genau dort sitzt. Also dort, wo Du die Couch für Dich schon eingesessen hast. Dort sitzt Du dann, liest die Zeitung und wartest, dass ich Dich zum Abendessen rufe. Ich wiederum stehe in der Küche und koche. Wenn ich Dich dann zum Essen rufe, dann klappst Du die Zeitung zu, legst sie ordentlich auf die rechte Lehne der Couch und kommst zum Essen. Wir essen schweigend oder tauschen Belanglosigkeiten aus. „Wie war Dein Tag?“ „Gut. Und Deiner?“ „Auch gut.“ – so etwas in der Art. Wenn wir fertig gegessen haben, gehst Du zurück ins Wohnzimmer und schaltest den Fernseher ein. Vielleicht setze ich mich noch zu Dir. Zumeist jedoch räume ich die Küche auf, gebe Dir einen Kuss und gehe ins Bett.
Jeden Abend dasselbe.
Jeden Abend der gleiche, gewohnte Ablauf.
An diesem Abend habe ich bereits die Zeitung hereingeholt, als Du kommst. „Wo ist meine Zeitung?“, höre ich Dich fluchen. Ich gehe Dir entgegen und umarme Dich, als Du verwirrt im Vorzimmer stehst und Deine Schlüssel nicht ablegen kannst, weil das Tischchen nicht mehr dasteht. Ich sage lächelnd: „Ich freue mich, dass Du da bist!“ „Wo ist das Tischchen?“, fragst Du irritiert. „Hier, häng sie da auf, in dem Kästchen“, sage ich und nehme es Dir ab, „Freust Du Dich denn nicht, dass Du mich siehst?“ „Ja, ja, natürlich“, antwortest Du wenig überzeugend. „Warum merke ich dann nichts davon?“, frage ich weiter. „Weil das so nicht geht. Jeden Abend nehme ich meine Zeitung mit. Jeden Abend lege ich den Schlüssel da auf das Tischchen. Warum ist das plötzlich alles anders?“, entgegnest Du konsterniert. „Weil ich Dich aufmerksam will“, entgegne ich kurz. Damit nehme ich Dich an der Hand und mit in die Küche. „Was soll ich da? Ich will meine Zeitung lesen!“, protestierst Du. „Das kannst Du später immer noch!“, sage ich resolut, und drücke Dir ein Messer in die Hand. Dann kochen wir miteinander. Langsam entsteht so etwas wie ein Gespräch, ein echtes Gespräch, bei dem wir beide anwesend sind. Anschließend essen wir miteinander und Du hilfst mir in der Küche. Danach entführe ich Dich zu einem Abendsparziergang. Wir setzen uns gemeinsam ins Wohnzimmer, Du in der linken Ecke der Couch. „Sieh nur, von hier aus kann man den Sonnenuntergang sehen!“, sagst Du überrascht. „Ich weiß, nur Du bist noch nie dort gesessen“, entgegne ich lapidar. „Warum gibt es bloß so vieles, was ich noch nicht kenne, obwohl wir schon so lange da wohnen?“, fragst Du plötzlich. Weil Du nichts mehr wahrnimmst, wenn Du immer die selben Pfade läufst. An diesem Abend bleibt der Fernseher ausgeschaltet und wir unterhalten uns lange.
Jeden Abend anders.
Jeden Abend eine kleine Veränderung.

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