Veränderungen
Jeden Abend dasselbe.
Jeden Abend der gleiche, gewohnte Ablauf.
Du nimmst aus dem Postkasten die Zeitung,
sperrst die Türe auf, trittst ein und sperrst sie hinter Dir wieder zu. Du
legst den Schlüssel auf das kleine Tischchen im Vorzimmer. Dann kramst Du in
Deiner Hosentasche, ziehst den Autoschlüssel heraus und legst ihn daneben. Dann
gehst Du ins Wohnzimmer. Auf dem Weg sagst Du „Hallo!“, und das sollte
eigentlich mir gelten, denn eigentlich erwartest Du, dass ich in der Küche bin.
Aber Du sagst es auch, wenn ich nicht in der Küche, sondern irgendwo bin. Du
setzt es so felsenfest voraus, dass das „Hallo!“ dorthin gehört, ob es nun
ankommt oder nicht. Ob Du es auch sagst, wenn ich gar nicht da bin? Fällt es
Dir überhaupt auf ob ich da bin oder nicht? Unbeirrt gehst Du weiter ins
Wohnzimmer und setzt Dich auf die Couch, in die rechte Ecke, dort, wo schon die
Mulde erkennbar ist, weil Du immer genau dort sitzt. Also dort, wo Du die Couch
für Dich schon eingesessen hast. Dort sitzt Du dann, liest die Zeitung und
wartest, dass ich Dich zum Abendessen rufe. Ich wiederum stehe in der Küche und
koche. Wenn ich Dich dann zum Essen rufe, dann klappst Du die Zeitung zu, legst
sie ordentlich auf die rechte Lehne der Couch und kommst zum Essen. Wir essen
schweigend oder tauschen Belanglosigkeiten aus. „Wie war Dein Tag?“ „Gut. Und
Deiner?“ „Auch gut.“ – so etwas in der Art. Wenn wir fertig gegessen haben,
gehst Du zurück ins Wohnzimmer und schaltest den Fernseher ein. Vielleicht
setze ich mich noch zu Dir. Zumeist jedoch räume ich die Küche auf, gebe Dir
einen Kuss und gehe ins Bett.
Jeden Abend dasselbe.
Jeden Abend der gleiche, gewohnte Ablauf.
An diesem Abend habe ich bereits die
Zeitung hereingeholt, als Du kommst. „Wo ist meine Zeitung?“, höre ich Dich
fluchen. Ich gehe Dir entgegen und umarme Dich, als Du verwirrt im Vorzimmer
stehst und Deine Schlüssel nicht ablegen kannst, weil das Tischchen nicht mehr
dasteht. Ich sage lächelnd: „Ich freue mich, dass Du da bist!“ „Wo ist das
Tischchen?“, fragst Du irritiert. „Hier, häng sie da auf, in dem Kästchen“,
sage ich und nehme es Dir ab, „Freust Du Dich denn nicht, dass Du mich siehst?“
„Ja, ja, natürlich“, antwortest Du wenig überzeugend. „Warum merke ich dann
nichts davon?“, frage ich weiter. „Weil das so nicht geht. Jeden Abend nehme
ich meine Zeitung mit. Jeden Abend lege ich den Schlüssel da auf das Tischchen.
Warum ist das plötzlich alles anders?“, entgegnest Du konsterniert. „Weil ich
Dich aufmerksam will“, entgegne ich kurz. Damit nehme ich Dich an der Hand und
mit in die Küche. „Was soll ich da? Ich will meine Zeitung lesen!“,
protestierst Du. „Das kannst Du später immer noch!“, sage ich resolut, und
drücke Dir ein Messer in die Hand. Dann kochen wir miteinander. Langsam
entsteht so etwas wie ein Gespräch, ein echtes Gespräch, bei dem wir beide
anwesend sind. Anschließend essen wir miteinander und Du hilfst mir in der
Küche. Danach entführe ich Dich zu einem Abendsparziergang. Wir setzen uns
gemeinsam ins Wohnzimmer, Du in der linken Ecke der Couch. „Sieh nur, von hier
aus kann man den Sonnenuntergang sehen!“, sagst Du überrascht. „Ich weiß, nur
Du bist noch nie dort gesessen“, entgegne ich lapidar. „Warum gibt es bloß so
vieles, was ich noch nicht kenne, obwohl wir schon so lange da wohnen?“, fragst
Du plötzlich. Weil Du nichts mehr wahrnimmst, wenn Du immer die selben Pfade
läufst. An diesem Abend bleibt der Fernseher ausgeschaltet und wir unterhalten
uns lange.
Jeden Abend anders.
Jeden Abend eine kleine Veränderung.
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