Wenn es mir passiert ...
Irgendwann, wenn Du nur lange genug
gelebt hast, denkst Du, Du kennst alles, hast schon alles gesehen, alles
erlebt, alles gehört was es gibt. Vielleicht gibt es da und dort noch eine
kleine Nuancierung, aber wenn Du den Anfang einer Geschichte hörst, dann weißt
Du bereits um das Ende, bis, ja bis Dich Deine eigene Geschichte lehrt, dass es
immer noch ganz anders kommen kann.
Ich war präpotent genug zu
behaupten, dass mein Leben so kommen wird, wie ich es mir einteilte, so als
könnte ich es beherrschen und bestimmen, als würde das Leben nach meinen
Vorstellungen fragen und sie ohne Wenn und Aber umsetzen, dachte es, bis ich
mich wiederfand, am Grab meines Mannes, an einem grauen, kalten Novembertag.
Und es regnete. Ich spürte es nicht. Ich war wie betäubt. Nicht, dass wir eine
überaus glückliche Ehe geführt hätten, aber immerhin, wir hatten sie geführt,
über Jahrzehnte hinweg, und wenn auch das Zusammensein nichts Berauschendes
mehr war, so war es doch zumindest in Zusammen-sein. Und dabei hatte ich mir
alles so schön ausgemalt. Die Kinder kamen zur Welt, und ich blieb zu Hause,
mein Mutter-sein zu leben, voll und ganz, und umso mehr sich die Kinder
wegbewegten, desto mehr holte ich mir mein Leben wieder zurück. Irgendwann
würden sie ausziehen, selbst Kinder bekommen, und dann könnte ich mich ab und
zu um die Enkelkinder kümmern und dennoch weiter meine Ziele verfolgen. Ich
habe mittlerweile Enkelkinder, doch sie sind so weit weg, dass ich sie kaum
zwei Mal im Jahr sehe, meine Kinder und meine Enkelkinder. Nun gut, dachte ich,
dann bleiben mir nur noch meine Ziele und mein Mann, und kaum, dass ich das
gedacht hatte, saß ich hier, an diesem Grab im November, im Regen, den ich
nicht spürte.
Mit einem Schlag waren alle Pläne
vernichtet, alles anders als gedacht. Ich war völlig allein. Eine grausame Art
und Weise, auf die mir das Leben zeigte wer wirklich das Sagen hat. Grausame
Gleichgültigkeit. Und so saß ich da und haderte mit dem Schicksal. Nein, ich
haderte nicht mehr, ich nahm es hin, wie den Regen und die Kälte. War ja doch
alles egal. Ob ich nun hier saß oder nicht, ob ich ging oder blieb, niemand
interessierte es.
Mit einem Schlag war alles anders.
Ich hatte keinen Plan und keine Richtung. Also blieb ich wo ich war, weil es
genau so gut oder schlecht war wie irgendwo anders, wo ich hingehen hätte
können, als hier, als plötzlich ein leises Wimmern an mein Ohr drang. Ich
wollte es ignorieren. Ich wollte nicht zulassen, dass es mich etwas anging,
aber es gelang mir nicht. Das Wimmern kam au seiner Tasche, die neben dem
Grabstein stand und die ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Vorsichtig sah ich
hinein und entdeckte darin ein kleines, braunes Fellknäuel, das sich zitternd
in die hinterste Ecke der Tasche drückte. Ganz durchnässt war der kleine Kerl.
Er zitterte vor Kälte. Nein, ich will nicht, dass Du mich anrührst, Kleiner.
Ich will mich nicht schon wieder emotional engagieren, dachte ich noch, während
er mich mit seinen kleinen, braunen Knopfaugen ansah, während er in seinem noch
viel zu großen Fell schepperte. Er war genau so unsicher wie ich, aber er
versuchte auf mich zuzugehen. “Na komm schon her”, sagte ich schließlich und
nahm ihn vorsichtig in meinen Arm, “Als erst müssen wir Dich ins Trockene
bringen.“ Da merkte ich erst wie völlig durchnäßt ich war. Schnell lief ich zum
Auto und brachte ihn nach Hause. „Glaub ja nicht, dass Du mich eingewickelt
hast“, dachte ich noch, als er satt und trocken neben mir auf der Couch
einschlief, auf seinem Platz.
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