0410 Maskerade


Maskerade


Du wirkst so souverän, heute, sagt ich zu ihr, als sie sich an diesem Abend zu mir setzt.
Oh Verzeihung, meint sie kurz, kramt in ihrer Tasche und zieht ein unbestimmtes Etwas heraus, das sie sich über das Gesicht zieht.
Wunderbar, jetzt wirkst Du traurig. Was macht Dich traurig?, frage ich.
Das sollte es nicht sein, entgegnet sie knapp, um wieder in der Tasche zu wühlen und ein anderes Etwas herauszunehmen, das sie sich wie zuvor überstülpt.
Das sieht jetzt danach aus, als würdest Du gerade die Kinder zum Spielen animieren wollen, merke ich an.
Was ist denn bloß heute los? Wo ist denn nur die richtige?, fragt sie, und die Frage gilt nicht mir, aber ich habe jetzt genug von dieser Maskerade und nehme ihr ohne weiteres die Tasche aus der Hand. Als ich hineinsehe finde ich sie vollgestopft mit Masken, traurige und heitere, erotische und distanzierte, souveräne und demütige. Ich nehme eine um die andere und werfe sie in den See. Zuerst werfe ich wohl noch einen Blick auf die eine oder andere, doch es sind einfach zu viele.
Was tust Du da? Das kannst Du doch nicht machen!, fährt sie dazwischen und versucht mir die Tasche wieder abzunehmen, aber ich lasse mich nicht beirren.
Ich werfe all diese Masken in den See, weil Du sie nicht brauchst!, sage ich bestimmt.
Doch, ich brauche sie, unbedingt!, meint sie, und in ihrer Stimme klingt Verzweiflung mit.
Warum bist Du nicht einfach wie Du bist? Warum zeigst Du nicht einfach wie Du Dich fühlst und wie es Dir geht?, frage ich.
Weil es weh tut, sagt sie schaudernd.
Wenn Du Dich zeigst, wirst Du menschlich, entgegne ich.
Wenn ich mich zeige, werde ich angreifbar, verletzbar, setzt sie entgegen.
Wenn Du Dich hinter einer Maske versteckst, können Dich echte Gefühle nicht erreichen. Niemand wird es versuchen. Du wirst unerreichbar, versuche ich sie zu motivieren.
Wenn ich mich nicht hinter einer Maske verstecke, dann ist es, als würde ich mich selbst öffnen und angreifbar machen, verletzlich, sagt sie.
Aber nur wenn Du Dich angreifbar, verletzlich machst, bist Du auch erreichbar für das Schöne, die Hinwendung, die Liebe, entgegne ich ernst.
Das kann schon sein, und das klingt auch alles recht schön, aber das Risiko ist mir viel zu groß. Zu oft schon hat es weh getan, weil ich mich geöffnet und eingelassen habe. Ich will das nicht mehr, nie mehr, entscheidet sie.
Und der Preis für diese Unverletzlichkeit ist nichts weiter als die Verweigerung Deiner selbst dem anderen gegenüber, der Deine Wunden zu heilen vermag, der sich Dir aufrichtig und anteilnehmend zuwendet. Ist es das was Du willst? Ein Leben in der Isolation, bloß wegen der Möglichkeit verletzt zu werden?, merke ich an.
Aber ich kann mich doch nicht so mir nichts Dir nichts jedem preisgeben!, sagt sie empört.
Nicht jedem, aber dem, bei dem Du Annahme findest. Lass Dich ein und los, hier bei mir, biete ich ihr an, und sacht streife ich ihr die letzte Maske ab. Sie lässt es geschehen. Verängstigt wirkt sie, ein wenig, aber auch befreit.

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