0310 Der Leuchtturm


Der Leuchtturm


Dort oben, am obersten Rand der Klippen, dort steht Dein Leuchtturm. Darin versiehst Du Dienst, Tag und Nacht. Von dort oben übersiehst Du das Land und das Meer gleichermaßen. An einem hellen, sonnigen Tag scheint der Blick sich in der Unendlichkeit zu verlieren. An solchen Tagen gaukelt Dir die Weite Deines Blickes vor, dass Du alles im Griff hast, dass Du alles sehen kannst und es nichts gibt, was Deiner Aufmerksamkeit entgeht. Wie leicht Du Dich doch täuschen läßt! Wie einfach es doch ist sich selbst etwas vorzugaukeln! Und sei es nur der Blick, von dem Du meinst, dass er ungetrübt ist, dass er wahrnimmt, was wirklich ist, und doch, selbst an solchen Tagen, bei klarer Sicht, ruhigem Wellengang und wolkenlosem Himmel, selbst da ist Deine Wahrnehmung beschränkt. Dort oben auf Deinem Leuchtturm siehst Du zwar weit in die Ferne, aber Du siehst nicht was unmittelbar neben Dir ist. Das Fenster, das Dir Ausblick gewährt, geht zwar ganz rundherum, aber die Balustrade, die unter dem Fenster liegt, die siehst Du nicht. Um diese zu sehen, müßtest Du Dich aus dem Leuchtturm hinausbewegen, der Dir nicht nur die Höhe ermöglicht, sondern auch Schutz bietet. Du übersiehst das Land und das Meer bis zum Horizont, doch Du siehst nicht, was direkt unter Deinen Füßen ist. Du bleibst oben und weit weg. Du verzichtest auf Nähe, um die Ferne nicht zu verlieren, die Dir alles verspricht und doch nichts hält, denn sie bleibt weit weg. Sicher, sie kann Dir auch nichts anhaben, aber sie kann Dir auch nichts geben. Alles Illusion, mir Nicht-Enttäuschungs-Garantie. Der Preis für die Sicherheit ist bloß die Abgeschnittenheit, nichts weiter. 

Du siehst mich nicht und deshalb meinst Du, dass ich Dich allein gelassen habe. Und doch bin ich da, ganz nahe bei Dir. Ich bin dort draußen auf der Balustrade. Ich bin ganz nahe bei Dir, so nahe wie es möglich ist ohne von Dir bemerkt zu werden. Es ist so leicht Dich zu täuschen, trotz Deines Überblicks, trotz der Illusion der Ferne. Ich könnte hineingehen und sagen, ja, ich bin da, bei Dir, an sonnigen und an stürmischen Tagen, bei Tag und bei Nacht, immer bin ich da. Vielleicht darf ich dann bleiben, vielleicht schickst Du mich weg. Ich werde es nicht drauf ankommen lassen und bleibe wo ich bin. Es stimmt schon, an klaren, sonnigen Tagen darf ich mich nicht rühren. Da sitze ich nur da und lasse die Beine baumeln, aber wenn es dunkel wird und Du den Scheinwerfer einschaltest, dann kann ich Dich durch die Fenster sehen, denn dann siehst Du nur, was der Lichtkegel beleuchtet. Direkt draußen vor Deinem Fenster stehe ich dann und bewege mich mit dem sich bewegenden Lichtkegel mit, immer ungesehen bleibend. Manchmal bin ich Dir so nahe, dass ich nur den Arm auszustrecken bräuchte und ich könnte Dich berühren. Manchmal bin ich Dir so nahe, dass ich Deinen Atem hören und Deine Wärme spüren kann. Manchmal bin ich Dir so nahe, dass ich Deine Augen erkennen kann, aber Die sind vom Licht geblendet, Du siehst mich nicht.

Eines Tages wird jemand kommen, der den Schlüssel hat zur Tür des Leuchtturms, wird die Stufen hinaufsteigen zu Dir und wird bei Dir bleiben, dort oben im Leuchtturm, mit Dir gefangen im Blick in die Ferne. Dann werde ich meinen Schirm aufspannen und mich vom Wind davontragen lassen. Eines Tages.

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