Der Leuchtturm
Dort oben, am
obersten Rand der Klippen, dort steht Dein Leuchtturm. Darin versiehst Du
Dienst, Tag und Nacht. Von dort oben übersiehst Du das Land und das Meer gleichermaßen. An einem hellen, sonnigen Tag scheint
der Blick sich in der Unendlichkeit zu verlieren. An solchen Tagen gaukelt Dir
die Weite Deines Blickes vor, dass Du alles im Griff hast, dass Du alles sehen
kannst und es nichts gibt, was Deiner Aufmerksamkeit entgeht. Wie leicht Du
Dich doch täuschen läßt! Wie einfach es doch ist sich selbst etwas vorzugaukeln! Und sei es
nur der Blick, von dem Du meinst, dass er ungetrübt ist, dass er wahrnimmt, was
wirklich ist, und doch, selbst an solchen Tagen, bei klarer Sicht, ruhigem
Wellengang und wolkenlosem Himmel, selbst da ist Deine Wahrnehmung beschränkt. Dort oben auf Deinem
Leuchtturm siehst Du zwar weit in die Ferne, aber Du siehst nicht was
unmittelbar neben Dir ist. Das Fenster, das Dir Ausblick gewährt, geht zwar ganz rundherum, aber
die Balustrade, die unter dem Fenster liegt, die siehst Du nicht. Um diese zu
sehen, müßtest Du Dich aus dem Leuchtturm hinausbewegen, der Dir nicht nur die Höhe ermöglicht, sondern auch Schutz bietet.
Du übersiehst das Land und das Meer bis
zum Horizont, doch Du siehst nicht, was direkt unter Deinen Füßen ist. Du bleibst oben und weit
weg. Du verzichtest auf Nähe, um die Ferne nicht zu verlieren, die Dir alles verspricht und doch
nichts hält, denn sie bleibt weit weg. Sicher, sie kann Dir auch nichts anhaben,
aber sie kann Dir auch nichts geben. Alles Illusion, mir Nicht-Enttäuschungs-Garantie. Der Preis für die Sicherheit ist bloß die Abgeschnittenheit, nichts
weiter.
Du siehst
mich nicht und deshalb meinst Du, dass ich Dich allein gelassen habe. Und doch
bin ich da, ganz nahe bei Dir. Ich bin dort draußen auf der Balustrade. Ich bin ganz
nahe bei Dir, so nahe wie es möglich ist ohne von Dir bemerkt zu werden. Es ist so leicht Dich zu täuschen, trotz Deines Überblicks, trotz der Illusion der
Ferne. Ich könnte hineingehen und sagen, ja, ich bin da, bei Dir, an sonnigen und an
stürmischen Tagen, bei Tag und bei
Nacht, immer bin ich da. Vielleicht darf ich dann bleiben, vielleicht schickst
Du mich weg. Ich werde es nicht drauf ankommen lassen und bleibe wo ich bin. Es
stimmt schon, an klaren, sonnigen Tagen darf ich mich nicht rühren. Da sitze ich nur da und lasse
die Beine baumeln, aber wenn es dunkel wird und Du den Scheinwerfer
einschaltest, dann kann ich Dich durch die Fenster sehen, denn dann siehst Du
nur, was der Lichtkegel beleuchtet. Direkt draußen vor Deinem Fenster stehe ich
dann und bewege mich mit dem sich bewegenden Lichtkegel mit, immer ungesehen
bleibend. Manchmal bin ich Dir so nahe, dass ich nur den Arm auszustrecken bräuchte und ich könnte Dich berühren. Manchmal bin ich Dir so nahe,
dass ich Deinen Atem hören und Deine Wärme spüren kann. Manchmal bin ich Dir so nahe, dass ich Deine Augen erkennen
kann, aber Die sind vom Licht geblendet, Du siehst mich nicht.
Eines Tages
wird jemand kommen, der den Schlüssel hat zur Tür des Leuchtturms, wird die Stufen hinaufsteigen zu Dir und wird bei Dir
bleiben, dort oben im Leuchtturm, mit Dir gefangen im Blick in die Ferne. Dann
werde ich meinen Schirm aufspannen und mich vom Wind davontragen lassen. Eines
Tages.
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