0911 Ein Märchen

Das blinde Mädchen

Es war einmal, vor langer Zeit, da lebte ein König. Er war unendlich reich. Sein Land war groß und viele Menschen waren ihm untertan. Das war ihm alles nicht genug. Er wollte der reichste König auf der Welt sein. Tag und Nacht dachte er darüber nach wie er das anstellen könnte. Da hörte er eines Tages von einem Schatz, dem größten Schatz der Welt. Von diesem wurde berichtet, dass er in einem Berg versteckt sein sollte, doch bis jetzt hatte ihn noch niemand gefunden. Die allerdings, die auszogen ihn zu suchen, die fanden nie mehr nach Hause. Von diesem Tag an hatte der König nur noch einen Gedanken, er musste diesen Schatz haben, was es auch immer kostete. Er holte also die gelehrtesten Männer, aber keiner wusste Rat. Der König wurde wütend, und er dachte schon daran alle Gelehrten vom Hof jagen zu lassen, als ein junger Mann vor ihn hintrat. "Euer Majestät", sagte er, "Ich glaube, ich weiß Rat." "Dann rede.", forderte ihn der König auf. "Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Der führte mich zu einem Mädchen. Dieses Mädchen saß vor seiner Hütte im Wald. Ich setzte mich zu ihm, und es zeigte mir alle Dinge ringsumher, alle Farben und Formen beschrieb es mir, zeigte mir sogar die verstecktesten Dinge, die unter der Erde und die im Wasser waren. Da sah ich es an, weil ich diese Augen sehen wollte, die so gut sehen können. Ich blickte in wasserblaue, doch blinde Augen. Es sagte mir, dass es seine Augen nicht brauche um zu sehen, denn es hätte die Gabe mit dem Herzen zu sehen, viel schärfer, viel mehr als jeder andere Mensch mit seinen Augen, und doch hätte es gern sein Augenlicht wieder. Ich fragte warum. Es sagte, weil es sich sonst nicht unter die Menschen wagen könne, denn wenn diese es sähen, dass es blind war und trotzdem sehen konnte, hielten sie es für eine Hexe. Deshalb lebe es auch einsam in diesem Wald. Es könne den Weg zu dem Schatz weisen, denn es auch in das Innere des Berges sehen." "Gut,", sagte der gierige König, "wir brechen sofort auf, und Du kommst mit mir mit." Da wurde dem jungen Mann schon schwer ums Herz, denn er musste seine alten kranken Eltern allein zurücklassen, die niemanden mehr auf der Welt hatten außer ihm und er wusste noch nicht einmal ob er sie wiedersehen würde, doch dem Befehl des Königs konnte er sich nicht widersetzen.

Als sie schon viele Wochen unterwegs waren und eigentlich schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, fanden sie tatsächlich den Wald und die Hütte des Mädchens, von der der junge Mann geträumt hatte. Es war alles genau wie in seinem Traum. Das Mädchen saß auf der Bank vor der Hütte. Er setzte sich zu ihm und erzählte, daß sie den Schatz suchten. Er fragte es, ob es ihnen wohl helfen würde. Sie antwortete: „Dir helfe ich gerne den größten Schatz der Welt zu finden, doch der dort, der König, der mit Dir gezogen ist, kann ihn niemals besitzen, denn sein Herz ist kalt.“ Als der König das hörte wurde er wütend, doch er wußte, daß sie den Schatz ohne das Mädchen niemals finden würden. Daher bändigte er seine Wut und dachte sich, das werden wir schon noch sehen. Wenn sie mir einmal den Schatz gezeigt hat, dann nehme ich ihn mir einfach. Wer sollte mich daran hindern? Das Mädchen wußte davon, denn sie konnte mit ihrem Herzen nicht nur bis zum Grunde des Sees sehen, sondern auch in das Herz der Menschen, und sie wußte wer gut und wer böse ist, und der junge Mann, der mit dem König gekommen war, der hatte ein gutes Herz. Um seinetwillen half sie bei der Suche.


Nach tagelanger Wanderung kamen sie zu einem Gebirge. Als sie davor standen wies das Mädchen auf einen kleinen, unscheinbaren Hügel. „Da darunter“, sagte sie, „ist der größte Schatz der Welt versteckt.“ „Da darunter?“, lachte er König, „Da sind so viele herrliche, große, stolze Berge, und gerade unter dem mickrigsten soll solch ein Schatz versteckt sein?“ „Dann frag doch den Herrn des Berges, wenn Du mir nicht glaubst.“, sagte das Mädchen unbeirrt. „Herr des Berges“, rief nun der König, „Ich bin hier den Schatz aus Deinem Inneren zu holen.“ „Ich weiß“, erdröhnte die mächtige Stimme des Berges, „doch bevor ich den Schatz freigebe, müßt ihr mir erst eine Frage beantworten.“ „Wenn es weiter nichts ist, dann frag.“, antwortete der König. „Aber überlege wohl wie Du antwortest“, sagte der Berg, „Wenn Du wählen mußt zwischen dem Schatz und der Möglichkeit, daß dieses Mädchen sein Augenlicht wieder bekommt, wie würdest Du Dich entscheiden?“ „Das ist doch gar keine Frage.“, entgegnete der gierige König, „Natürlich entscheide ich mich für den Schatz.“ „Und nun zu Dir.“, wendete sich nun der Herr des Berges an den Begleiter des Königs, „Wie würdest Du Dich entscheiden?“ Da sah der junge Mann das Mädchen an und sagte, „Wenn es nur einen Funken Hoffnung gäbe, daß diese Mädchen sein Augenlicht zurück bekommt, so würde ich auf alles andere verzichten.“

In dem Moment kam Leben in die klaren blauen Augen des Mädchens, und sie konnte wieder mit den Augen sehen. Der gierige König aber irrte jahrelang durch die Wälder, und als er endlich wieder in sein Reich zurückkam, fand er seinen gesamten Besitz in Schutt und Asche gelegt. Der junge Mann und das Mädchen jedoch kehrten heim, doch statt der armseligen Hütte, fanden sie einen herrlichen Palast vor, die Truhen voller Geld. Da wurde eine große Hochzeit gefeiert. Der junge Mann hatte seinen größten Schatz gefunden, doch es war nicht das Gold und nicht der Palast, sondern seine schöne Braut. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

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