Zuerst war die Dunkelheit
Immer
reden alle nur vom Licht. Immer wollen alle nur ans Licht. Doch die Dunkelheit
war zuerst da. Nicht, dass das Licht auf der Erde war um sich für eine gewisse
Zeit zurückzuziehen. Es war genau umgekehrt. Zuerst war die Dunkelheit, die dem
Licht einen Platz einräumte.
Zuerst
war die Dunkelheit. Es geriet wohl in Vergessenheit. Anständige Leute
bevorzugen das Licht, denn sie haben nichts zu verbergen, und merken nicht,
dass gerade das Licht so viel verbirgt. Ja, ich sehe Dich, scharf und
ungefiltert, schon von der Weite. Kann mir überlegen ob ich auf Dich zugehen
will oder Dich doch lieber meide. Jede Falte und jedes ungeordnete Haar sehe
ich. Das Licht macht, dass Du Dich hinter einer Maske aus Farbe und falschem
Lachen versteckst. Das Licht macht Dich erkennbar, äußerlich. Abartig sei es
die Dunkelheit zu suchen, sagen sie und ziehen sich vor denen zurück, die es
verstehen,
die
Dunkelheit war zuerst.
In der
Dunkelheit, so wie es im Anfang war, kann ich Dich nur wahrnehmen, wenn ich
nahe an Dich herantrete. Ich höre Deinen Atem in der Stille, höre an Deinem
Atem ob Du ruhig bist oder aufgeregt. Beinahe ist es mir, als würde ich Deinen
Herzschlag hören, erahnen wie Dein Blut lebendig durch Deine Adern pulsiert. So
vieles wird deutlicher, indem die Äußerlichkeiten zurücktreten. Ich kann nicht
sehen ob Du alt oder jung bist, ob Dein Gesicht ebenmäßig glatt oder von Falten
zerfurcht ist, ob Deine Lippen voll und groß oder schmal sind, ob Deine Augen
glänzen oder fahl sind, aber ich kann Dich als da-seiend erkennen. Du bist mir
in der Dunkelheit nur, wenn Du mir nahe bist. Ich berühre Dich, weil ich mich
vergewissern willst, und ich spüre, was ich im Licht nicht spüre, Deine warme
Haut, Dein Haar. Ich höre, was mir der Lärm des Tages verwehrt, Deine Stimme.
Ich lasse mich ein darauf, weil ich mich nicht hinter einer Maske zurückziehen
kann. Begegnung in der Dunkelheit kann nur geschehen, wenn sie gewollt ist, und
dann geschieht sie. Ich höre Dich und höre Dir zu. Ich begegne Dir und gebe
mich Dir zu. Mit den, durch die Dunkelheit geschärften, anderen Sinne bin ich
da, ganz da. Nichts ist da, was mich ablenken könnte, nichts was mich aus dem
Mit-Dir-sein herausreißen würde. Siehst Du, ich erkenne meine eigenen Gedanken.
Ich kann sie ganz ausführen, ohne ständig herausgerissen zu werden, ohne
ständig abgelenkt zu sein. Die Liebe blüht in der Dunkelheit, und das Begehren,
Dich zu erkennen, Dir zu sein. Die Sehnsucht gedeiht in der Dunkelheit und das
Verlangen nach Einlösung. Ich will Dir sein, hier in der Dunkelheit. Silbrig
glänzt der Mond und spendet gerade so viel Licht, dass Du weich und warm
umschmeichelt wirst. Der Rest ist Ahnung, Andeutung. Die Dunkelheit belässt es
dabei. Du musst nicht klar sehen können um klar zu sehen. Du musst nicht das
kleinste Detail erkennen um zu erkennen. Du musst nicht detailgetreu berichten
können um mich zu wissen. Alles was Du brauchst ist ein offenes Ohr, dass ich
mich Dir zuwenden kann, ein offenes Herz, dass Du mich verstehen kannst und
eine Offenheit in Dir, dass ich bei Dir ankommen kann.
Die
Dunkelheit war zuerst.
Und all
die, die sie fliehen, die mich als bizarr und dekadent bezeichnen, haben es
noch nicht gewagt, den Blick zum Mond und zu den Sternen in einer dieser
wunderbaren Nächte, die atmen lassen und den Gedanken fliegen lehren, die mich
umfangen mit der warmen, milden Zärtlichkeit einer Mutter, der Ur-Mutter. Sacht
lege ich mich ins Gras und erwarte.
Die
Dunkelheit war zuerst.
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