Der Rabe spricht
„Die Richtige? Wofür sollte ich denn die Richtige
sein?“, fragte Morrigan verwirrt. Ihren Koffer hatte sie neben sich abgestellt.
Nicht weil er schwer war. Viel war es nicht was sie hatte retten können.
Eigentlich so gut wie gar nichts, aber das wenige war von großer Bedeutung. Ihr
langes schwarzes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr immer noch
bis zu den Knien reichte. Sie war schlank und hochgewachsen und ihr schwarzes
Kleid schmiegte sich wie ein zärtlicher Liebhaber an sie. Ihre hohe Stirn
verriet Mut und Entschlossenheit und stand damit im Widerspruch zur sinnlichen
tiefe ihrer dunklen, ja fast schwarzen Augen, ihrer vollen, roten Lippen. „Das
wirst Du noch früh genug erfahren“, antwortete ihre Tante ausweichend, „Es hat
alles seine Zeit, auch der Tod meiner Schwester, der Tod meines Schwagers, der
Tod meines Neffen und der Beginn Deines Lebens hier. Es ist notwendig, dass Du
hierhergekommen bist, notwendig geworden durch eben jene Ereignisse. Sicher,
früher oder später wäre es unausweichlich gewesen. Nun ist dieser Zeitpunkt früher
eingetreten als gedacht, aber was ist schon menschliches Denken. Letztendlich
nichts weiter als törichter Hochmut und krankhafte Überheblichkeit. Ein paar
Flammen genügen um alles menschliche Planen ad absurdum zu führen. Die Natur
geht ihren Weg, so wie das Schicksal, mit oder gegen das menschliche Denken.
Ihm ist es einerlei und wir würden gut daran tun mitzugehen, ist es doch
sinnlos sich dagegen aufzulehnen. Vielleicht lässt es einen einige Zeit
gewähren, doch irgendwann ist der Punkt erreicht, da wird jeder in die richtige
Bahn zurückgeführt.“ Morrigan hat Mühe ihren Worten zu folgen. Der Tod ihrer
Familie sollte nur ein lapidares Intermezzo gewesen sein? „Warum sprichst Du so
über meine Familie? Hast Du denn keinen Respekt vor dem, was mir widerfahren
ist?“, schießt es unwillkürlich aus ihr heraus. „Verzeih, mein Kind,“,
entgegnete ihre Tante ruhig und scheinbar völlig unbeeindruckt von Morrigans harschen
Worten, „ich vergaß, Deine Jugend, aber auch Du wirst nicht umhin können Dich
der Wahrheit und dem Leben zu stellen. Ich spreche so zu Dir, weil ich Respekt
davor habe. Deshalb nenne ich die Dinge beim Namen und nicht in kryptischen
Bildern, die das Eigentliche verschweigen, um im Endeffekt doch nur dem
Sprechenden etwas Gutes zu tun. Er kann sich selbst davor schützen, und gibt
vor einfühlsam zu sein. Doch der Respekt vor Deinem Schmerz, so wie der vor
meinem zwingt mich dazu den Tod meiner Schwester als den Tod meiner Schwester
zu bezeichnen, der er nun mal ist. Falsche Worte gaukeln Illusionen vor, doch
sie ändern nichts am eigentlichen Geschehen, und umso schneller ich das
begreife, umso schneller Du das begreifst, desto schneller lernst Du mit diesem
Schmerz zu leben, lernst Du ihn als Deinen ständigen Begleiter zu akzeptieren,
vielleicht sogar wert zu schätzen, eines Tages.“ „Ich bin verstoßen von meiner
Familie. Warum bin ich übrig geblieben? Warum als einzige? Wäre es nicht gnädig
vom Schicksal gewesen mich mit ihnen sterben zu lassen?“, fragte Morrigan
traurig. „Das Schicksal ist weder grausam noch gnädig. Es ist blind für kleine
Einzelschicksale. Es geschieht, einfach so, ohne Frage, ohne Antwort, und wir
müssen uns in das Geschehen fügen. Eines Tages wachst Du auf, aber die anderen
nicht mehr. Eines Tages kannst Du nicht mehr gehen, aber die anderen schon
noch. Eines Tages trifft Dich die Liebe, aber den anderen nicht. Dann gilt es
mit diesen Gegebenheiten zu leben, bis das Schicksal eine neue Vorgabe gibt.
Auf jeden Fall kannst Du Dich nicht früh genug von der Vorstellung
verabschieden, dass morgen alles noch so sein muss wie es am Vorabend war.
Nichts muss sein. Alles kann.“ „Aber wofür bin ich die Richtige? Wie kann ich
überhaupt die Richtige für irgendetwas sein, wenn wir doch nichts wissen,
nichts wissen können?“, fragte Morrigan entsprechend. „Ich sagte nur, dass wir
nichts über unser Schicksal wissen, wissen können. Vieles andere schon“,
entgegnete die Tante. „Es wird sich alles finden“, hörte sie plötzlich eine
Stimme, eine leise, weiche Stimme, die direkt in ihrem Ohr zu sitzen schien, doch
da war niemand so nahe neben ihr. Hugin saß immer noch auf ihrer Schulter, doch
er war ein Rabe, bloß ein Rabe. „Ich bin nicht bloß ein Rabe“, konterte Hugin
ihre Gedanken. „Kannst Du meine Gedanken lesen?“, dachte Morrigan. „Ich kann
sie lesen“, antwortete die Stimme in ihrem Ohr, „Bitte sie um das Zimmer im
Turm!“ „Warum?“, dachte Morrigan. „Weil die Geheimnisse von dort aus am besten
enthüllt werden können“, antwortete Hugin und verließ ihre Schulter und den
Raum.
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