2911 Schattenraben (Teil 2)


Der Rabe verrät


Morrigan hatte laut aufgeschrien, als der Schatten sich von der Gestalt neben der Tür löste und unversehens auf sie zukam. Ein Rauschen erfüllte die Luft, breite Flügel vor ihrem Gesicht, zerzausten ihr Haar und brachten sie kurz aus der Fassung. Wenige Sekunden nur hatte dieser Spuk gedauert. Dann war wieder alles ruhig, völlig ruhig, als hielte selbst die Natur den Atem an, als hätte sich alles Lebendige geduckt. Auf Morrigans Schulter hatte sich ein großer, schwarzer Rabe niedergelassen.

„Ja, ich denke auch, dass sie die Richtige ist, Hugin“, durchschnitt ein sonorer Bass die Stille. Er kam wohl von der Gestalt, die immer noch unbewegt neben dem Tor stand, „Meine liebe Morrigan, tritt ein.“ „Onkel Ogma?“, fragte Morrigan leise, als wäre sie in einer Kirche, in der gerade Andacht gehalten wurde. Doch ist nicht die Natur, die vollmondbeschirmte Natur die herrlichste Kathedrale? „Ja, natürlich meine Liebe. Wir haben Dich erwartet. Folge mir“, forderte sie ihr Onkel auf, drehte sich um und ging einen dunklen Gang entlang, der ihm wohlbekannt war, so sicher setzte er seine Schritte, doch für Morrigan stellte es eine Herausforderung dar  ihm zu folgen. Der Rabe blieb auf ihrer Schulter. Endlich öffnete Onkel Ogma eine Türe, hinter der ein wenig Licht zu erkennen war. Morrigan trat ein. Offenbar befanden sie sich in der Bibliothek, denn die Wände zu ihrer linken wie zu ihrer rechten waren mit Buchregalen verstellt, wohingegen vor ihr große Fenster prangten. Doch auch diese waren mit schweren Samtvorhängen abgedunkelt.  Schwere Fauteuils waren wie achtlos im Raum verstreut, der durch etliche Kerzen notdürftig erhellt wurde. Zum Fenster hingewandt erkannte sie einen Rollstuhl. Es war wohl eine Frau, die darinnen saß, den schmalen Schultern nach zu urteilen. Da wurde der Rollstuhl unvermittelt gewendet. Eine zarte Frau saß darinnen. Ihr blutrotes Kleid war bis obenhin geschlossen und reichte ihr bis über die Knöchel. Das rote Haar trug sie zu einem Knoten gebunden und ließen ihre weichen Gesichtszüge voll zur Geltung kommen. Morrigan hatte nicht viel von ihr gehört, nur unter der Hand wurde immer wieder ihre atemberaubende Schönheit erwähnt. Unter der Hand, weil diese Frau, die so genau um ihre Vorzüge wusste, gerade über diesen kein Wort verlieren wollte. Aber auch, wenn kein Wort verloren wurde, Blicke genügten um ihr zu versichern, dass jeder, der ihrer ansichtig wurde, egal ob Frau oder Mann, egal ob jung oder alt, vor Ehrfurcht verstummte. Morrigan konnte sich da nicht ausnehmen. Ihr Gesicht war ebenmäßig und schien von innen zu leuchten. Große Grüne Augen wurden von langen Wimpern verschleiert und von sanft geschwungenen Augenbrauen gekrönt. Ihre lange schmale Nase war von solcher Sanftheit und Symmetrie, das der beste Bildhauer sie nicht besser modellieren hätte können, worunter  fein geschwungene Lippen saßen. In Kindertagen ein echter Wildfang gewesen, hatte ein schweres Schicksal sie an diesen Stuhl gefesselt. Seitdem verabscheute sie ihre eigene Schönheit. Deshalb zog sie sich in diese Abgeschiedenheit zurück.

„Morrigan“, riss sie ihre weiche, warme Stimme aus den Gedanken, „Willkommen in unserer Burg!“ „Danke, Tante Epona“, antwortet Morrigan kurz, immer noch hingerissen von dieser erbauenden und zugleich verstörenden Schönheit. „Hugin hat sie sofort erkannt“, drang nun die sonore Bassstimme ihres Onkels an ihr Ohr. Dieser hatte sich hinter einen Fauteuil gestellt, außerhalb des Scheins der wenigen Kerzen. „Und Hugin hat sich noch nie geirrt“, setzte die Tante hinzu, während ihre tiefen grünen Augen Morrigan eingehend mustern, „Sie ist die Richtige.“ 

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