Der Rabe
verrät
Morrigan hatte laut aufgeschrien, als der
Schatten sich von der Gestalt neben der Tür löste und unversehens auf sie
zukam. Ein Rauschen erfüllte die Luft, breite Flügel vor ihrem Gesicht,
zerzausten ihr Haar und brachten sie kurz aus der Fassung. Wenige Sekunden nur
hatte dieser Spuk gedauert. Dann war wieder alles ruhig, völlig ruhig, als
hielte selbst die Natur den Atem an, als hätte sich alles Lebendige geduckt.
Auf Morrigans Schulter hatte sich ein großer, schwarzer Rabe niedergelassen.
„Ja, ich denke auch, dass sie die Richtige
ist, Hugin“, durchschnitt ein sonorer Bass die Stille. Er kam wohl von der
Gestalt, die immer noch unbewegt neben dem Tor stand, „Meine liebe Morrigan,
tritt ein.“ „Onkel Ogma?“, fragte Morrigan leise, als wäre sie in einer Kirche,
in der gerade Andacht gehalten wurde. Doch ist nicht die Natur, die
vollmondbeschirmte Natur die herrlichste Kathedrale? „Ja, natürlich meine
Liebe. Wir haben Dich erwartet. Folge mir“, forderte sie ihr Onkel auf, drehte
sich um und ging einen dunklen Gang entlang, der ihm wohlbekannt war, so sicher
setzte er seine Schritte, doch für Morrigan stellte es eine Herausforderung dar ihm zu folgen. Der Rabe blieb auf ihrer
Schulter. Endlich öffnete Onkel Ogma eine Türe, hinter der ein wenig Licht zu
erkennen war. Morrigan trat ein. Offenbar befanden sie sich in der Bibliothek,
denn die Wände zu ihrer linken wie zu ihrer rechten waren mit Buchregalen
verstellt, wohingegen vor ihr große Fenster prangten. Doch auch diese waren mit
schweren Samtvorhängen abgedunkelt.
Schwere Fauteuils waren wie achtlos im Raum verstreut, der durch etliche
Kerzen notdürftig erhellt wurde. Zum Fenster hingewandt erkannte sie einen
Rollstuhl. Es war wohl eine Frau, die darinnen saß, den schmalen Schultern nach
zu urteilen. Da wurde der Rollstuhl unvermittelt gewendet. Eine zarte Frau saß
darinnen. Ihr blutrotes Kleid war bis obenhin geschlossen und reichte ihr bis
über die Knöchel. Das rote Haar trug sie zu einem Knoten gebunden und ließen
ihre weichen Gesichtszüge voll zur Geltung kommen. Morrigan hatte nicht viel
von ihr gehört, nur unter der Hand wurde immer wieder ihre atemberaubende
Schönheit erwähnt. Unter der Hand, weil diese Frau, die so genau um ihre
Vorzüge wusste, gerade über diesen kein Wort verlieren wollte. Aber auch, wenn
kein Wort verloren wurde, Blicke genügten um ihr zu versichern, dass jeder, der
ihrer ansichtig wurde, egal ob Frau oder Mann, egal ob jung oder alt, vor
Ehrfurcht verstummte. Morrigan konnte sich da nicht ausnehmen. Ihr Gesicht war
ebenmäßig und schien von innen zu leuchten. Große Grüne Augen wurden von langen
Wimpern verschleiert und von sanft geschwungenen Augenbrauen gekrönt. Ihre
lange schmale Nase war von solcher Sanftheit und Symmetrie, das der beste
Bildhauer sie nicht besser modellieren hätte können, worunter fein geschwungene Lippen saßen. In
Kindertagen ein echter Wildfang gewesen, hatte ein schweres Schicksal sie an diesen
Stuhl gefesselt. Seitdem verabscheute sie ihre eigene Schönheit. Deshalb zog
sie sich in diese Abgeschiedenheit zurück.
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