2811 Schattenraben (Teil 1)


1. Ein neues Heim


Ein letzter Blick zurück. „Weiter fahre ich nicht. Das ist mir einfach zu unheimlich“, hatte ihr der Fahrer des Taxis rüde gesagt. Unversehens fand sich Morrigan nebst ihren Koffer auf der Straße stehend. Sie sah zu wie die Lichter des Mercedes in der Nacht verschwanden, in die Richtung, in die der nächste Ort zu erahnen war. Klar und hell war diese Nacht. Ungehindert floss das Vollmondlicht, das die Welt warm und ruhig erschienen ließ. Der letzte Blick zurück, dann nahm Morrigan entschlossen den Koffer auf und wandte sich der steinernen Brücke zu, die vor ihr lag. Ein Stück des Weges war noch zu erahnen, doch schon nach wenigen Metern verlor er sich in der Dunkelheit eines dicht gewachsenen Waldes, der bis jetzt wohl noch von keiner Menschenhand beschnitten worden war. Dementsprechend ungezähmt und lustvoll war sein Wachstum. Jeder Zentimeter war von üppiger Vegetation in Beschlag genommen worden. Morrigan ging ruhig weiter. Sie hatte keine Angst. Vor wenigen Tagen erst hatte sie ihre Eltern und ihren Bruder verloren. Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, war bis zu den Grundmauern abgebrannt. Seltsam war nur, dass sowohl Mutter, Vater als auch Bruder ruhig in ihren Betten weitergeschlafen hatten. Morrigan war in dieser Nacht nicht zu Hause gewesen. Jetzt ging sie den dunklen Waldweg entlang. Sie hatte alles verloren. Wovor sollte sie sich noch ängstigen?

Morrigan hatte sich schon einige Zeit vorsichtig den Waldweg entlang getastet, als die Bäume unversehens zurückwichen und den Blick auf eine ehrfurchtgebietende Burg freilegte. Kurz hielt sie inne. Stark und herrisch ragten die Zinnen gen Himmel. Die alten Steine waren ebenso wild und ungezähmt überwachsen. Rosen mussten es wohl sein, die sie überwucherten, so weit Morrigan ausmachen konnte. Kurz schien ein kleines Glitzern zwischen den Ranken aufzutauchen, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass Morrigan meinte, sie hätte sich geirrt. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich dem großen hölzernen Tor zugewandt. Rasch richtete sie ihr Kleid, prüfte ob ihr Zopf richtig saß, dann griff sie wieder nach dem Koffer, ging auf das Tor zu, atmete tief durch und klopfte entschlossen an. Sie war nicht schüchtern, ganz im Gegenteil. Ihre Eltern waren viel unterwegs gewesen und hatten sie und ihren kleinen Bruder Belenus sich selbst überlassen. Morrigan sorgte für sie beide während dieser Zeit. Sie war es, die stark war für sie beide und sie stützte. Furchtlos trat sie allen Widrigkeiten entgegen. So hatte sie gelernt, dass das Leben nur möglich ist, wenn man aufrecht geht. Niemand hilft Dir. Niemand ist für Dich da. Nur Du selbst kannst für Dich eintreten.

Wenige Minuten später wurde das Tor knarrend geöffnet. Wolken hatten sich mittlerweile vor den Mond geschoben und Morrigan fand sich in tiefste Finsternis gehüllt. Seltsamerweise fiel auch kein Licht aus dem Haus. Drinnen schien dieselbe Finsternis zu herrschen wie her außen. Alles was Morrigan wahrnahm war eine große Gestalt, die offenbar das Tor geöffnet hatte, denn eine Hand hielt sich daran fest. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht etwas aufzunehmen. Die Gestalt verharrte, reglos gleich einer Statue, als plötzlich ein großer, dunkler Schatten, wie aus dem Nichts kommend, auf sie zustürzte. Als nächstes hörte sie einen durchdringenden Schrei. Es war wohl ihr eigener gewesen.

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