1. Ein neues Heim
Ein letzter Blick zurück. „Weiter fahre ich nicht. Das ist mir einfach
zu unheimlich“, hatte ihr der Fahrer des Taxis rüde gesagt. Unversehens fand
sich Morrigan nebst ihren Koffer auf der Straße stehend. Sie sah zu wie die
Lichter des Mercedes in der Nacht verschwanden, in die Richtung, in die der
nächste Ort zu erahnen war. Klar und hell war diese Nacht. Ungehindert floss
das Vollmondlicht, das die Welt warm und ruhig erschienen ließ. Der letzte
Blick zurück, dann nahm Morrigan entschlossen den Koffer auf und wandte sich
der steinernen Brücke zu, die vor ihr lag. Ein Stück des Weges war noch zu
erahnen, doch schon nach wenigen Metern verlor er sich in der Dunkelheit eines
dicht gewachsenen Waldes, der bis jetzt wohl noch von keiner Menschenhand
beschnitten worden war. Dementsprechend ungezähmt und lustvoll war sein
Wachstum. Jeder Zentimeter war von üppiger Vegetation in Beschlag genommen
worden. Morrigan ging ruhig weiter. Sie hatte keine Angst. Vor wenigen Tagen
erst hatte sie ihre Eltern und ihren Bruder verloren. Das Haus, in dem sie
gewohnt hatten, war bis zu den Grundmauern abgebrannt. Seltsam war nur, dass
sowohl Mutter, Vater als auch Bruder ruhig in ihren Betten weitergeschlafen
hatten. Morrigan war in dieser Nacht nicht zu Hause gewesen. Jetzt ging sie den
dunklen Waldweg entlang. Sie hatte alles verloren. Wovor sollte sie sich noch
ängstigen?
Morrigan hatte sich schon einige Zeit vorsichtig den Waldweg entlang
getastet, als die Bäume unversehens zurückwichen und den Blick auf eine
ehrfurchtgebietende Burg freilegte. Kurz hielt sie inne. Stark und herrisch
ragten die Zinnen gen Himmel. Die alten Steine waren ebenso wild und ungezähmt
überwachsen. Rosen mussten es wohl sein, die sie überwucherten, so weit
Morrigan ausmachen konnte. Kurz schien ein kleines Glitzern zwischen den Ranken
aufzutauchen, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass Morrigan meinte,
sie hätte sich geirrt. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich dem großen hölzernen Tor
zugewandt. Rasch richtete sie ihr Kleid, prüfte ob ihr Zopf richtig saß, dann
griff sie wieder nach dem Koffer, ging auf das Tor zu, atmete tief durch und
klopfte entschlossen an. Sie war nicht schüchtern, ganz im Gegenteil. Ihre
Eltern waren viel unterwegs gewesen und hatten sie und ihren kleinen Bruder
Belenus sich selbst überlassen. Morrigan sorgte für sie beide während dieser
Zeit. Sie war es, die stark war für sie beide und sie stützte. Furchtlos trat
sie allen Widrigkeiten entgegen. So hatte sie gelernt, dass das Leben nur
möglich ist, wenn man aufrecht geht. Niemand hilft Dir. Niemand ist für Dich
da. Nur Du selbst kannst für Dich eintreten.
Wenige Minuten später wurde das Tor knarrend geöffnet. Wolken hatten
sich mittlerweile vor den Mond geschoben und Morrigan fand sich in tiefste
Finsternis gehüllt. Seltsamerweise fiel auch kein Licht aus dem Haus. Drinnen
schien dieselbe Finsternis zu herrschen wie her außen. Alles was Morrigan
wahrnahm war eine große Gestalt, die offenbar das Tor geöffnet hatte, denn eine
Hand hielt sich daran fest. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht
etwas aufzunehmen. Die Gestalt verharrte, reglos gleich einer Statue, als
plötzlich ein großer, dunkler Schatten, wie aus dem Nichts kommend, auf sie
zustürzte. Als nächstes hörte sie einen durchdringenden Schrei. Es war wohl ihr
eigener gewesen.
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