Verirrt?
Stundenlang war sie nun durch diesen Wald
geirrt. Noch war sie nicht so weit sich einzugestehen, dass sie sich verlaufen
hatte, noch hatte sie die Kraft weiterzugehen. Stur, ja, das war sie, stur und
uneinsichtig. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Unzählige Male
bereits war sie durch diesen Wald gegangen und meinte, sie kenne ihn wie ihre
eigene Westentasche, jeden Weg, jeden Baum, jeden Stein. Unzählige Male war es
ihr bereits gelungen gerade in diesem Wald wieder zur Ruhe zu kommen, ihre
Gedanken in Ordnung zu bringen, doch diesmal gelang es ihr einfach nicht. Sie
achtete weder auf dem Weg noch auf die Umgebung, so sehr war sie in ihren
Gedanken gefangen. Als sie nach ewig langer Zeit aufsah wusste sie nicht mehr
wo sie war, nur eingestehen konnte sie es sich nicht. Also ging sie den Weg
weiter, immer wieder nach links oder rechts sich wendend, weil es überall
untrügliche Zeichen zu geben schien, doch wie sehr können wir uns Zeichen
einbilden, wenn wir sie sehen wollen. Sie wollte es zwingen. Irgendwie musste
es doch gehen. Irgendwie musste ein Weiterkommen möglich sein, ein Zurückkehren
und einfach weitermachen. Nein, das konnte einfach nicht sein, dass sie sich da
verlaufen hatte. Immer noch ging sie weiter, bis langsam die Dämmerung
einsetzte. Wie lange sie wohl schon so durch den Wald irrte, mit ihrem ganzen
Starrsinn? Endlich ließ sie sich erschöpft auf einem umgefallenen Baum nieder.
Nur kurz wollte sie verschnaufen, denn sie musste doch raus aus diesem Wald
bevor es finster wurde. Schließlich war sie überzeugt, dass es nicht mehr weit
sein konnte. Es konnte einfach nicht. Nur kurz wollte sie ihre Gedanken sammeln
und die aufkommende Panik mit Ruhe übermalen. Dann würde es weitergehen, als
sich plötzlich jemand neben ihr niederließ. Sie hatte ihn nicht bemerkt, nicht
bemerkt, dass er näher kam. Erst als er neben ihr saß und über seine
Anwesenheit kein Zweifel mehr möglich war, sah sie auf.
„Eine ideale Zeit um im Wald spazieren zu
gehen“, sagte sie unvermittelt.
„Ja, ich gehe immer um die Zeit. Es ist
eine ganz eigene Atmosphäre“, entgegnete er bestätigend.
„Und es macht mir auch gar nichts, dass es
bald finster wird“, fügte sie hinzu.
„Nein, mir macht das auch nichts aus“, gab
er zurück.
„Ich habe mich auch nicht verirrt“, sagte
sie mit großem Nachdruck.
„Ich auch nicht. Ganz bestimmt nicht.
Schließlich kenne ich diesen Wald wie meine Westentasche“, ergänzte er.
„Ich glaube, ich gehe jetzt weiter“, sagte
sie unvermittelt.
„Vielleicht bleibe ich noch ein wenig
sitzen. Es ist ja gerade so schön“, meinte er.
„Ich muss jetzt nach Hause gehen“, bemerkte
sie.
„Ich werde dann auch bald nach Hause gehen“,
ließ er sie wissen.
„Bloß weiß ich nicht wo das ist“, gab sie
kleinlaut zu.
„So genau weiß ich es eigentlich auch nicht
mehr“, sagte er nachdenklich.
„Ich habe es, glaube ich, noch nie wirklich
gewusst“, gab sie nun ihrerseits zu.
„Aber ich habe mich nicht verirrt. Dass wir
uns da nicht falsch verstehen“, betonte er.
„Nein, verirrt habe ich mich auch nicht,
denn verirren kann man sich nur, wenn man weiß woher man kommt und wohin man
will. Heimatlose können sich nicht verirren“, entgegnete sie leise.
„Aber wenn wir es schon nicht wissen, so
könnten wir doch gemeinsam suchen?“, sagte er bedächtig.
Und als sie aufstanden, weitergingen war
alles plötzlich ganz einfach.
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