Willst Du gesehen werden,
so musst Du Dich zeigen
„Ich bin noch nicht so weit“, sagst Du
immerzu, „Ich bin noch nicht so weit mich zu zeigen. Wenn ich mich zeige, dann
mache ich mich verletzlich, angreifbar. Wer weiß was für Meinungen da über mich
entstehen. Wer weiß wie ich auf die Menschen wirke. Wer weiß was für
Bemerkungen da fallen, die nicht immer freundlich ausfallen müssen. Wer weiß
wie persönlich diese werden. Manche Menschen haben ja so gar kein Gespür für
Respekt und Grenzen.“
„Aber wenn Du Dich nicht zeigst, dann
kannst Du auch nicht gesehen werden“, entgegne ich, „Wenn Du Dich nicht zeigst
kannst Du niemals wissen wie Du wirkst auf andere, wie viel Du geben kannst und
wie viel auch angenommen wird, kannst Du niemals den Augenblick erleben, diesen
wunderbaren, tiefen Augenblick, in dem Annahme, Verstehen geschieht.“
„Ich will aber nicht verletzt werden“,
wirfst Du ein, „Ich will gesehen werden, aber mich dennoch zurücknehmen. So
viele Wunden habe ich schon davongetragen, weil ich meinte, dass ich mich
öffnen, mich zeigen könnte. So viele Zurückweisungen habe ich erfahren, und ich
will nicht nochmals verletzt werden. Es tut einfach viel zu weh. Und das wird
nicht einfacher mit der Zeit, ganz im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Ich
habe Angst davor.“
„Und willst einen Weg finden Dich sehen zu
lassen ohne Dich zu zeigen“, werfe ich spöttisch ein, „Willst einen Weg finden
etwas von Dir herzugeben und dennoch verschlossen zu bleiben, willst den
Schmerz meiden, indem Du das Glück vertreibst, willst der Verletzung entgehen,
indem Du Dich selbst erfrieren lässt, willst geliebt werden ohne etwas von Dir
preiszugeben.“
„Genau das ist es!“, sagst Du triumphierend
und kriechst endlich unter der Decke hervor, unter der Du Dich versteckt
hattest.
„Bin ich froh, dass ich endlich wieder Dich
ansehen kann, wenn ich mit Dir rede und nicht immer nur diese dumme Decke!“,
merke ich aufatmend an, „Aber dennoch, es geht nicht. Du kannst nicht annehmen
ohne Dich zu öffnen. Du kannst Verstehen einfordern, wenn Du nichts von Dir
preis gibst, Du kannst nicht gesehen werden, wenn Du Dich nicht zeigst. Warum
hörst Du nicht einfach auf immer an den Schmerz zu denken, der Dir zugefügt
wurde, weil Du Dich zeigtest und denkst stattdessen an all die Momente, in
denen Du Bereicherung erfuhrst, in denen Deine Offenheit mit Offenheit
beantwortet wurde, in denen Dein Dich-Verstehen-geben mit Verstehen einherging,
in denen Deine Preisgabe liebevoll ummantelt wurde?“
„Das klingt so einfach, wenn Du das sagst.
Tu so, als sei nichts gewesen und schau mal was passiert. Das ist es doch, was
Du mir vorschlägst?“, entgegnest Du bitter, „Ich kann doch nicht so tun als sei
nichts gewesen, kann nicht so tun, als wäre ich plötzlich wieder völlig naiv
und meinen, alle wollten nur das Beste.“
„Das brauchst Du auch nicht, aber Du kannst
Dich hinausbewegen, in kleinen Schritten, abtasten, aber ein Wagnis bleibt es
immer, so wie es ein Wagnis war Dich mir zu zeigen. So wie es ein Wagnis für
mich war mich Dir zu zeigen. Doch was, wenn wir uns auf dieses Wagnis nicht
eingelassen hätten, was wenn wir in uns verblieben wären? Was, wenn wir uns
nicht die Chance gegeben hätten uns einander anzunähern? Was, wenn wir uns
dafür entschieden hätten uns nicht zu zeigen?“, entgegne ich nachdenklich.
„Wir hätten einander nicht gesehen, nicht
sehen können.“
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