1601 Willst Du gesehen werden, so musst Du Dich zeigen


Willst Du gesehen werden, so musst Du Dich zeigen


„Ich bin noch nicht so weit“, sagst Du immerzu, „Ich bin noch nicht so weit mich zu zeigen. Wenn ich mich zeige, dann mache ich mich verletzlich, angreifbar. Wer weiß was für Meinungen da über mich entstehen. Wer weiß wie ich auf die Menschen wirke. Wer weiß was für Bemerkungen da fallen, die nicht immer freundlich ausfallen müssen. Wer weiß wie persönlich diese werden. Manche Menschen haben ja so gar kein Gespür für Respekt und Grenzen.“
„Aber wenn Du Dich nicht zeigst, dann kannst Du auch nicht gesehen werden“, entgegne ich, „Wenn Du Dich nicht zeigst kannst Du niemals wissen wie Du wirkst auf andere, wie viel Du geben kannst und wie viel auch angenommen wird, kannst Du niemals den Augenblick erleben, diesen wunderbaren, tiefen Augenblick, in dem Annahme, Verstehen geschieht.“
„Ich will aber nicht verletzt werden“, wirfst Du ein, „Ich will gesehen werden, aber mich dennoch zurücknehmen. So viele Wunden habe ich schon davongetragen, weil ich meinte, dass ich mich öffnen, mich zeigen könnte. So viele Zurückweisungen habe ich erfahren, und ich will nicht nochmals verletzt werden. Es tut einfach viel zu weh. Und das wird nicht einfacher mit der Zeit, ganz im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Ich habe Angst davor.“
„Und willst einen Weg finden Dich sehen zu lassen ohne Dich zu zeigen“, werfe ich spöttisch ein, „Willst einen Weg finden etwas von Dir herzugeben und dennoch verschlossen zu bleiben, willst den Schmerz meiden, indem Du das Glück vertreibst, willst der Verletzung entgehen, indem Du Dich selbst erfrieren lässt, willst geliebt werden ohne etwas von Dir preiszugeben.“
„Genau das ist es!“, sagst Du triumphierend und kriechst endlich unter der Decke hervor, unter der Du Dich versteckt hattest.
„Bin ich froh, dass ich endlich wieder Dich ansehen kann, wenn ich mit Dir rede und nicht immer nur diese dumme Decke!“, merke ich aufatmend an, „Aber dennoch, es geht nicht. Du kannst nicht annehmen ohne Dich zu öffnen. Du kannst Verstehen einfordern, wenn Du nichts von Dir preis gibst, Du kannst nicht gesehen werden, wenn Du Dich nicht zeigst. Warum hörst Du nicht einfach auf immer an den Schmerz zu denken, der Dir zugefügt wurde, weil Du Dich zeigtest und denkst stattdessen an all die Momente, in denen Du Bereicherung erfuhrst, in denen Deine Offenheit mit Offenheit beantwortet wurde, in denen Dein Dich-Verstehen-geben mit Verstehen einherging, in denen Deine Preisgabe liebevoll ummantelt wurde?“
„Das klingt so einfach, wenn Du das sagst. Tu so, als sei nichts gewesen und schau mal was passiert. Das ist es doch, was Du mir vorschlägst?“, entgegnest Du bitter, „Ich kann doch nicht so tun als sei nichts gewesen, kann nicht so tun, als wäre ich plötzlich wieder völlig naiv und meinen, alle wollten nur das Beste.“
„Das brauchst Du auch nicht, aber Du kannst Dich hinausbewegen, in kleinen Schritten, abtasten, aber ein Wagnis bleibt es immer, so wie es ein Wagnis war Dich mir zu zeigen. So wie es ein Wagnis für mich war mich Dir zu zeigen. Doch was, wenn wir uns auf dieses Wagnis nicht eingelassen hätten, was wenn wir in uns verblieben wären? Was, wenn wir uns nicht die Chance gegeben hätten uns einander anzunähern? Was, wenn wir uns dafür entschieden hätten uns nicht zu zeigen?“, entgegne ich nachdenklich.
„Wir hätten einander nicht gesehen, nicht sehen können.“

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