Das echte Leben
Die Nacht ist Verheißung. Ich sitze am Steg und sehe hinein in
diese Verheißung, mit offenen Augen zu dem Kommenden und Werdenden. So wie der
Mond aufgeht, so geht die Freiheit auf, zeitlos, uneingeschränkt und darin die
Verheißung ermöglichend. Jede Nacht im selben Rhythmus, und doch ist jede Nacht
für sich und einzigartig. So viele Nächte habe ich schon erlebt, und doch ist
dies die einzige Nacht, die lebbar ist. All die anderen sind Erinnerung oder
Spekulation, doch nicht mit Leben erfüllbar. Äußerlich sich gleichend, ist doch
keine wie die andere. Die Dämmerung kündigt die Nacht an, leitet sie ein, es
wird dunkel, der Mond geht auf und gleitet übers Firmament, um wieder
unterzugehen und mit ihm die Dunkelheit. So spielt es sich ab, jede Nacht. Ja,
das äußere ist immer gleich, die Strukturen sind immer dieselben, und dennoch
ist das Innere der Nacht niemals gleich.
„Warum sitzt Du eigentlich jede Nacht hier? Es ist doch eh immer
gleich. Ja, vielleicht nicht ganz. Ein paar Nächte lang, das könnte ich ja noch
verstehen, irgendwie, doch wirklich jede Nacht, das verstehe ich nicht“,
sagtest Du ohne Umschweife, wie es nun mal Deine Art ist die Dinge anzugehen, um
es auch bei Menschen so zu handhaben, als Du Dich unvermittelt und unerwartet
neben mich setztest und ungeduldig die Beine baumeln ließt. Diese Rastlosigkeit
umweht Dich wie ein billiges Parfum.
„Ich sitze jede Nacht hier, weil keine Nacht der anderen gleicht,
weil sie mich ruft in die Verheißung des Kommenden, das nicht einmal ahnbar
ist“, entgegnete ich leise, so dass Du ruhiger werden musstest, wolltest Du
mich verstehen.
„Entschuldige, aber hier passiert doch nichts, nicht wirklich.
Vielleicht in Deiner Phantasie oder bloß Deiner Einbildung, aber doch nicht
real. Du solltest einmal runterkommen und Dir das richtige Leben ansehen, nicht
immer daneben stehen und die Ruhige und Ausgeglichene spielen. Das könnte ich
auch leicht, wenn ich mir um nichts Gedanken machen müßte, wenn ich keine
Sorgen habe und Probleme, wie im echten Leben dort draußen“, fuhrst Du fort.
„Was meinst Du, was das richtige Leben ist?“, fragte ich Dich.
„Das fragt sie auch noch, das fragt sie wirklich! Das richtige,
echte Leben, das ist das, wo man sich Sorgen machen muss, womit man das Essen
bezahlt und die Miete und die Mittel zum Heizen und vieles mehr. Wo man
arbeiten muss und ständig mit einem Muss konfrontiert wird, aber darüber musst
Du Dir ja keine Gedanken machen. Deshalb kann für Dich auch jede Nacht anders
sein, weil Du die Muse hast Dich darin zu verlieren, dass der Mond heute
vielleicht ein wenig runder ist als gestern. Heureka! Diese Nacht ist ganz
anders als die andere!“, riefst Du aus, mit einem Ton, der nicht wirklich freundlich
klang.
„Jede Nacht ist anders, so wie jeder Mensch, jedes Leben anders
ist. Du könntest natürlich sagen, dass der Mensch geboren wird, lebt und wenn
er fertig gelebt hat, stirbt. So gesehen ist jeder Mensch, jedes Leben gleich,
und dabei werden damit nur die äußeren Strukturen beschrieben. Jeder Mensch und
jedes Leben ist einzigartig, so wie jede Nacht, und wenn Du meinst, dass das
echte, das rechte, das richtige Leben woanders spielt, wenn Du meinst, dass das
hier nur Selbstbetrug und obsessiver Müßiggang ist, der mir erlaubt mich mit
Gedanken zu beschäftigen, die der Unausgelastetheit entspringen, warum bist Du
dann hier?“, entgegnete ich.
„Weil es der einzige Ort ist, an dem ich Ruhe finde, gerade weil
ich den Eindruck habe, dass immer alles gleich ist und so verlässlich. Weil Du
der einzige Mensch um mich bist, der nicht ständig was von mir will oder
erwartet. Weil Du immer hier am Steg bist und mich annimmst, selbst jetzt“,
sagtest Du langsam, und ich merkte, dass Du zur Ruhe kamst.
Die Nacht ist Verheißung, und in dieser Nacht warst Du es, die
sich mir eröffnete, in dieser einzigen Nacht, die gelebt werden kann.
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