Dia.log (4): Über den Tod hinaus
Wirkmächtig ist das Wort. Einmal ausgesprochen, kann es
nicht mehr zurückgenommen werden. Wie ein Gedanke, der nur ein einziges Mal
durch den Kopf blitzte um gleich wieder zu verschwinden, doch er hinterläßt
Spuren. Niemals wieder kann man hinter das einmal Gedachte wieder zurück. Noch
schwerwiegender ist es mit dem Wort. Einmal ausgesprochen steht es im Raum und
es gibt kein Zurück mehr, kein Ableugnen und kein Weigern. Es steht da wie der
Stab, an dem sich der Hörende aufrichtet oder wie ein Mahnmal, das ewig erinnert,
unverrückbar und unzerstörbar. Worte können bewegen und aufrichten, bereichern
und Trost schenken, Hoffnung verheißen und Zuversicht erwachsen lassen. Aber es
kann auch richten und aburteilen, Schmerz und Leid zufügen, verhöhnen und
verspotten, erniedrigen und vernichten. Deshalb tragen wir die Verantwortung
für jedes noch so unbedachte Wort, die Verantwortung für den gesprochenen und
nicht mehr rückholbaren Gedanken, die Verantwortung für die Wirkmacht beim
Hörenden.
Wirkmächtig ist das Wort, das gesprochene, aber noch mehr
das geschriebene. Sie wirken über das einmalige Hören hinaus, werden
hinausgetragen in die Welt und schaffen Verbindungen über die Zeiten,
Generationen und Ansichten hinweg. Warum sonst wären sonst so oft Bücher
verbrannt worden, wenn sie nicht Auswirkungen hätten auf das Denken der
Menschen, wenn sie nicht wirkmächtig wären, wenn sie nicht beeinflussten?
Habe den Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen –
sagte einst Kant, und immer noch wird er rezitiert, auch wenn wir immer noch
nicht begriffen haben, dass der eigene Verstand mehr sein könnte als die
Ansammlung von normalen, durchschnittlichen Gedanken, mehr Raum und
Möglichkeiten hätten.
Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen
– ein wahrhaft großer Satz, der den Schwätzern und Möchtegern-Wissenden Einhalt
gebieten sollen.
Nicht enden wollend wäre diese Liste, und wenn ich über
den einen oder anderen Satz stolpere, egal von wem oder von wann und er trifft
mich, dann bin ich eingetreten in den Dialog mit jenen, die lange vor uns
waren, die uns zeigen, dass sich das Menschliche nicht verliert, die gründenden
Fragen und Antwortversuche. Dann werden die Worte lebendig, als Gedanken derer,
die längst nicht mehr sind. Dann versinke ich in einer anderen Welt, die sich
mir eröffnet und meine bereichert. Ich lese, weil ich weiß, dass es noch so
vieles gibt, was hörenswert ist, weil wohl jeder Gedanke schon einmal gedacht
wurde, aber mir je im Moment des Ins-Dialog-tretens neu erscheint und wertig.
Das ist der Grund warum ich lese, weil sich der Raum des Dialogs weitet über
die Unmittelbarkeit des Sprechens hinaus, weil es mich hinausträgt über die
engen Grenzen meiner eigenen Lebenswelt, weil es Fragen aufwirft, die vorher
nicht gewärtig waren und Antworten zu geben vermag, zu denen ich keinen Zugang
hatte. Lesen bedeutet Verstehen und Annehmen über unsere eigene Einengung
hinweg, über uns selbst hinaus. Wenn wir bereit sind zu hören, uns dies offen
und unvoreingenommen zusprechen zu lassen, so sind wir in den Dialog
eingetreten und stehen darin, und die Worte fließen zwischen Dir und mir, denn
jede Ansprache, und sei es eine geschriebene, verlangt Antwort und
Stellungnahme. Und ich antworte, indem ich die Worte mich beeinflussen und
verändern lassen.
Lesen bedeutet Dialog über die engen Grenzen des einen,
kleinen Lebens hinweg.
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