Dia.log (5): Mit Leben erfüllt
Der Mensch ist in der Lage, ja geradean dazu berufen und
ausgezeichnet darin, Empathie zu zeigen, zu leben. In Deinen Augen lese ich
Deine Freude wie Deine Trauer, Dein Glück wie Deinen Schmerz, und ich mache es
mir zu eigen, gehe mit mit Dir, lebe es mit Dir, weine oder lache mit Dir,
trauere oder freue mich mit Dir. Ich tauche ein in die Geschichte, die Deine
ist, tauche ein und lebe sie mit, diese Deine Geschichte, die Dich prägte, die
Dich vor mich stellte wie Du bist, in all Deiner Antastbarkeit und
Verletzlichkeit, tauche ein in Deine Geschichte, in der Du Dich mir
anvertraust, wenn Du es mir eröffnest, Dein Erreichen wie Dein Versagen, Dein
Lieben wie Dein Hassen, Dein Wünschen wie Dein Verloren-sein, Dein Streben wie
Dein Verzagen, in allem bist Du, und in allem bin ich Dir. Und wenn jetzt
jemand daran geht seine Geschichte festzuhalten, in einer Weise, dass sie uns
zugänglich gemacht wird, so kann ich sie annehmen, aufnehmen und weiterreichen,
kann mich darin finden oder mich entfernt fühlen, kann ich Dir erzählen, wenn
ich mich fesseln ließ. „Nimm mich beim Wort“, und ich nehme Dich, indem ich die
Worte, die Du mir schenkst, ernstnehme, nehme Dich an in Deinen Gedanken, in
denen sich Dein Zugang zur Welt eröffnet. Und auch wenn Deine Geschichten,
Deine Gedanken schon lange Zeit tradiert wurden, auch wenn Du aus einer anderen
Zeit, einem anderen Kulturkreis kommst, kann ich sie immer noch gewärtigen,
Deine Geschichte, kann ich sie mir immer noch erzählen lassen. Wie weit wirkt
das Wort? Doch über die Jahrhunderte hinweg. Wie lange wirkst Du? So lange
Deine Geschichte gelesen wird. So lange sich auch nur einer findet, der Deine
Geschichte liest und weiterträgt. „Ich habe ein Buch gelesen“, sage ich zu Dir,
und indem ich es las, veränderte ich etwas an der Geschichte und die Geschichte
änderte etwas in mir, denn durch die Geschichte, die ich noch nicht kannte,
durch den Blickwinkel, den Du mir in Deiner Geschichte eröffnetest, werde ich
selbst weiter. Es ist kein Verfälschen, sondern in mir weitertragen und
weiterleben, über die Grenzen des einzelnen Mensch-seins hinaus, in mir, und in
jedem, dem ich diese Geschichte weitererzähle, bewirkt sie Veränderung und
Erweiterung, bewirkt sie Neues und Unvorhergesehenes. Nicht
Literaturwissenschaftler und nicht Medien, nicht große Verlagsbosse oder
Kulturkritiker, ja noch nicht einmal das hochhehre Komitee der
Nobelpreisvergabe soll Dir sagen was ein gutes Buch ist, was eine gute
Geschichte ist. Nur Du selbst weißt es zu beurteilen. Dann machen geschriebene
Worte für Dich Sinn, wenn sie Dich anspricht und mitnimmt. Du entscheidest was
Du annimmst und was nicht. Du entscheidest auf wen Du Dich einlässt und auf wen
nicht. Im Aufeinander-treffen mit anderen Menschen sollte dies
selbstverständlich sein. Aber warum ist es das dann nicht bei Büchern? Warum
lassen wir uns so viel einschwatzen von sogenannten Experten? Warum lassen wir
uns in unserem eigenen Empfinden, in unserer eigenen Empfänglichkeit irre
machen? Warum verlieren wir so leicht das Vertrauen in unsere innere Stimme?
Warum lassen wir uns uns selbst so widerspruchslos entfremden? Warum sind wir
so schnell bereit uns der Meinung anderer unterzuordnen? Warum sind wir so
schnell bereit uns selbst zu verleugnen und zu negieren? Warum lassen wir es
zu, dass jemand für uns entscheidet was Kunst und was Schund, was hohe und was
profane Literatur ist? Und warum muss Schund und profane Literatur von
vornherein schlecht sein? Denn nichts vom Menschen mit Empathie Geschaffenes,
ist unwürdig tradiert zu werden, und wenn es nur ein einziger Gedanke ist, ein
einziges Wort an der rechten Stelle, zur rechten Zeit, das mir weiterhilft, so
hat es seinen Anspruch ernstgenommen und mich mit Leben erfüllt.
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