Dia.log (12): Macht oder
Für-sorge?
Ich sitze auf meinem Steg und der Mond
spiegelt sich im Wasser. Eine kleine, zarte Gestalt nähert sich und bleibt in
einiger Entfernung stehen. Sie zittert, als hätte sie Angst, wirkt müde und
gebeugt. Dennoch hat sie den Weg auf sich genommen. Ich stehe auf und gehe ihr
entgegen. Ihre Haut ist dunkel und ihre schwarzen Augen lassen sie fremdartig
erscheinen.
„Hallo! Ich freue mich, dass Du da bist!“,
versuche ich sie aufzumuntern. Sie lächelt mich an. Sie antwortet, oder ich
nehme vielmehr an, dass sie antwortet, denn ich verstehe ihre Sprache nicht.
Deshalb nehme ich sie an der Hand und leite sie an die Stelle, an der ich zuvor
saß, an die Stelle, von der aus ich den Mond bewunderte. Wir setzen uns und ich
deute auf den Mond und sage Mond. Sie sagt Mond auf ihre Sprache. Ich
wiederhole das Wort um es mir einzuprägen. Dann deute ich auf mich und nenne
meinen Namen. Sie tut das gleiche und nennt mir ihren Namen. ich wiederhole ihn
um ihn mir einzuprägen. So verfahren wir mit vielen Dingen um uns herum, um
dann fortzusetzen mit kleinen Sätzen, und immer ist dieses Lächeln, das uns
verbindet und uns aufmuntert. Und diese kleinen Berührungen, die das
Annähern-Wollen signalisieren. So lerne ich von ihr wie sie von mir. Ich lerne,
dass jedes Ding einen Namen in ihrer Sprache hat, so wie sie ein neues in
meiner Sprache lernt. Wir sind uns gegenseitig, Lehrende und Lernende. Doch es
sind mehr als Worte, die wir lernen. Wir lernen eine neue Welt. Wir offenbaren
uns einander. So kann es sein. So sollte es sein. Den Weg gemeinsam zu gehen,
wo wir dereinst in Babel getrennt wurden.
Doch wie oft ist es passiert, dass die, die
Macht hatten die Sprache und damit die Wirklichkeit derer, die sie unterwarfen
negierten und damit auslöschten? Wie oft passierte es, dass die Sprache als
Machtinstrument missbraucht wurde um die, die keine andere Wahl hatten,
sprachlos zu machen? Wie oft flüchteten sich die Reichen in eine Sprache, die
sie nur untereinander verstanden, um die soziale Kluft umso deutlicher werden
zu lassen? Wie viele Woyzecks leben unter uns, weil wir ihnen das Wort
verbieten und ihnen ihre Empfindungen beschneiden, um uns dann auch noch zu
wundern, wenn sie ihre Marie morden? Warum wundern wir uns, dass Sprachlosigkeit
zu Gewalt führt, wo wir diese Sprachlosigkeit doch selbst nährten und
verursachten? Wie oft passiert es, dass wir uns genau über das empören, was wir
doch selbst verursachten? Dabei ist es doch für mich selbst erweiternd, wenn
ich Neues lerne, wenn Du es mir erlaubst die Welt durch Deine Augen neu zu
sehen. So spannend und bereichernd, wenn ich in Deinen Worte Deine Geschichte,
Deine Einstellungen zum Leben und zum Miteinander lerne. Wovor sollte ich Angst
haben? Anders ist weder besser noch schlechter, sondern einfach anders. Warum
ist es nur so schwer vorurteilsfrei, offenen Auges und offenen Herzens auf Dich
zuzugehen. Stehe ich denn selbst auf so wackligen Beinen, dass ich fürchten
musst, Du brächtest meine Welt ins Wanken, ja ließest sie gar einstürzen? Und
wenn es so wäre, sollte sie dann nicht auch einstürzen? Oder wäre es nicht
allemal besser, dass wir unsere Welten einander annähern und voneinander
durchfließen und erweitern lassen?
Am Ende dieser Nacht, kann ich mich in
Deiner Sprache von Dir verabschieden und Du Dich von mir.
Am Ende dieser Nacht bin ich mehr als ich
es am Anfang dieser Nacht war.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen